THREE O´CLOCK HEROES
SONGS AND NAILS
(BRD 1996)

Will ich eine fremde Stadt richtig erkunden, mache ich den Pennplatz klar, stecke ein paar Kippen ein und geh mich besaufen. Wenn ich knülle genug bin, versuche ich, wieder mein Nachtlager zu finden, einen Eimer an´s Bett zu stellen und ein paar Stunden mit angezogenen Klamotten zu dösen. Sobald es draußen hell wird, taste ich mich mit einem Schluck schalen Mineralwasser an den Morgen heran, schäle mich von der Matratze und prüfe, ob ich aufrecht stehenbleiben kann, ohne meine Wange an der Wand aufzuschürfen. Gelingt das, stecke ich mir ein paar Kippen ein, um dann mit einem Mega-Schädel im Zick-Zack durch die Straßen der fremden Stadt zu torkeln.
Inzwischen habe ich etwas Übung darin, trotz geöffneter Augen nicht wach zu werden und das bißchen Bewußtsein, das ich aus verkehrstechnischen Gründen benötige, zu automatisieren. Und dafür habe ich meine Gründe. Wenn man es nämlich schafft, die süße Verbindung zum Tiefschlaf (Aufzeichnungen) zu erhalten und sie mit den Eindrücken (live) mixt, entstehen ganz vorzügliche, neue Filme. In meinem Fall sogar richtig geile Schocker, weil ich die Musik in meinem Kopf selbst bestimme. Positiv hinzu kommt, daß am Sonntagmorgen um neun verhältnismäßig wenig Leute auf der Straße sind und wenn, dann auch nur die, die garantiert einen an der Klatsche haben (und die einen in der Regel auch in Ruhe lassen, wenn man zwei Stunden vorher noch gekotzt hat).
Das heißt, daß man sich in aller Ruhe dem hingeben kann, was fremde Städte interessant macht: Architektur und 24-Stunden-Tankstellen.
Einen schönen Film dieser Art sah ich im November 2003 mit meinem Bruder in Frankfurt am Main. Zwar ein B-Movie, aber echter Underground, mit verwackelten Bildern und so.
Zwischen Wiedergeburt und Sterben stand es 1:1 und Peter und ich torkelten in die Verlängerung. Wir waren beide so ausgeknockt vom Vorabend, daß nicht nur Passanten, sondern auch wir selbst große Bögen um uns machten.
Dafür, daß wir eigentlich gar nicht mehr in der Lage waren, halbwegs geradeaus zu sprechen, führten wir eine lebhafte Unterhaltung. Genaugenommen redeten wir ohne Unterlaß. Ganz erstaunlich, welch unglaubliche Weisheit man in solchen Momenten entwickelt.
Wir fanden zwar nicht für alle Probleme der Welt praktikable Lösungen, dafür stießen wir aber auf raffinierte Kochrezepte für Tütensuppen und den Sinn von Ewald Lienen. Ich spürte mit jedem klugen Satz, wie das Philosophieren unter freiem Himmel meinen IQ stählte. Trotzdem bekam ich viel von dem mit, was eine Stadt wie Frankfurt für mich interessant macht. Ich schnüffelte an vergammelten Häusern, entdeckte einen alten Ford Capri und Hunde mit Hausbesetzer-Frisuren. Aber auch Yuppie-Cafes, nüchterne Glasfassaden und Menschen, die mit sich selber sprechen. Ich sah Nutten, bei denen eine Nummer nicht mehr als 20 Cent kosten darf, aber auch solche, bei denen es okay ist, wenn sie nur für´s Anschauen 50 Euro berechnen. Am schönsten war der Henninger Turm. Er sah aus wie eine eingegipste Klobürste und verströmte den diskreten Charme blütenweißer Nachkriegsjahre. Kinder, was waren das für Zeiten! Pril entspannte das Wasser, Ted Herold war ein Mann, denk daran, Catarina Valente kam ein bißchen mit nach Italien und aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen. Nein, cool war das alles nicht, aber wenigstens wurden junge Männer noch ausgelacht, wenn sie Börsenmakler werden wollten.
Ich glaube, ich habe mich sogar ein bißchen verknallt. Es ist zwar nur ein Turm, aber immerhin! Mal was anderes als Bahnhöfe.
Wenn mir jemand eine Postkarte mit diesem schönen Baudenkmal schickt, werde ich mich damit revanchieren, daß ich mir diesen Menschen nackt vorstelle, wenn ich das nächste mal wichse.
Während wir in Echtzeit weiter durch die Gegend schlunzten, sprang unser Film im Minutentakt durch sämtliche Epochen einer gloreichen Vergangenheit und präsentierte uns ein Stakkato aus ständig wechselnden Kulissen, die kein Schwein nüchtern erträgt. Der Hauptbahnhof mit seiner ausladenden Empfangshalle im spätpubertärem Jugendstil beamte uns direkt in die Kaiserzeit, als Männer wie wir noch Frack und Zylinder trugen und die Promenade abflanierten. Zu Fuß natürlich, denn es war Sonntag und da ritten wir nicht. Wir waren sicher angesehene Intellektuelle, die netten Peacemaker aus dem Pott, während der Pöbel zum Militär ging, Frankreich überfiel und entsprechend unbeliebt war. Wenn wir vorüberzogen, applaudierte das Volk, weil wir Hinz und Kunz persönlich kannten und es nicht vergessen würden, John Lennon schöne Grüße zu bestellen.
Es war wohl das Richtige, erstmal einen starken Kaffee zu trinken.
Als wir eine Stunde später durch die Hochhausburgen zogen, gab es keinen Grund mehr für Applaus. Wir waren uns einig, daß man da nur wohnen kann, wenn der Kalender 1975 anzeigt und man viel Lindenberg inhaliert.
Ich persönlich hätte sowieso lieber Udo gehört als diesen Alleinunterhalter vom Vorabend, den mein Onkel zu seinem Fünfzigsten engagiert hatte. Die Verwandtschaft traf sich im Vereinshaus einer Kleingartensiedlung im Arbeiterstadtteil Sachsenhausen und war gut angezogen.
Es war ein Fest wie alle anderen Feste. Man ißt ein Stück Braten, bestreicht sein Roggenbrot mit Kräuterbutter und irgendwann ist man besoffen.
Der Alleinunterhalter war inzwischen beim sentimentalen Teil des Abends angekommen und beschwor die Country Roads, ihn nach Hause zu tragen.
Wir beschlossen, einen Spaziergang zu machen.
Ich war ziemlich aufgeregt. Ich meine, es wird vielleicht schon dem einen oder anderen beim Lesen meiner Artikel aufgefallen sein, daß ich vornehmlich in Höhlen wohne, mich von Beeren und Moos ernähre und am liebsten die Musik höre, die in dieser Zeit entstanden ist.
Auf jeden Fall komme ich nicht oft in die große Stadt und war von daher extrem scharf auf einen Blick auf die erleuchtete Skyline.
Schnatternd ließen wir Mitternacht links liegen, bis wir den perfekten Aussichtspunkt erspähten. Es war exakt eines von den Hochhäusern, in denen man es nur aushalten kann, wenn man Lindenberg hört. Zumindest solange, bis man die Flatter macht und Seemann wird.
Wir sichteten die obersten Schellen und drückten ungefähr tausendmal drauf.
Eine zeitlang blieb es still. Dann knackte die Sprechanlage und eine verschlafene Frauenstimme krächzte "ja bitte?"
Die drei Cousins, die uns begleiteten, erwiesen sich als Spaßvögel.
"Pizza für Jonas Wagner!"
"Häh?"
"Einmal Tonno, doppelt Käse."
"Aber ich habe keine Pizza bestellt!"
"Keine Pizza? Wie stellen Sie sich das vor?"
Meine Cousins bogen sich vor Lachen. Ich kam mir vor wie in einem Manta-Film.
Irgendjemand drückte, die Tür öffnete sich und wir fuhren mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage. Leider vergebens, denn vom Hausflur kam man nicht auf das Dach. Wir also wieder runter. Vor dem nächsten Hochhaus stand ein Möbelwagen. Drei Studenten verschiedenen Geschlechts trugen Pappkartons heraus. Souverän stellten wir uns daneben und versuchten erst gar nicht zu verbergen, daß wir gut einen in der Kirsche hatten. Jaja, das Showbusiness und seine extrovertierten Typen. Schon verrückt, irgendwie.
Nun, ich hätte schwören können, daß Studenten wissen, wie ein echter VIP aussieht, aber die Studenten wußten nicht einmal, was ein Tonk ist. Die Art und Weise, wie sie ihre Deckung verstärkten, ließ eher darauf schließen, daß sie dachten, wir wären dahergelaufene Psychopathen.
Wir setzten ein Zeichen und gaben ihnen zu verstehen, daß wir in Frieden kamen und nur mal eben kurz in ihre Wohnung müssen.
Zu unserem Bedauern stellte sich heraus, daß die Spätschicht in der ersten Etage wohnte. Das waren mindestens fünf Stockwerke zu wenig. Die Studenten hätten sich nicht zu wundern brauchen, wenn man sie deswegen verprügelt hätte, denn Alkohol macht viele Leute aggressiv. Die Tonk-Sippe hingegen wird bei großen Mengen hilfsbereit und nett. Das ist das Problem.
Mein Bruder und ich bestanden darauf, eigenhändig und im Schweiße unserer Angesichter ein paar schwere Pappkartons vom LKW bis zur Haustür zu tragen, nur aus Spaß, ganz unverbindlich. Die Studenten waren massiv dagegen und meinten, das sei doch nicht nötig, aber es war nötig und deshalb ignorierten wir die drei und machten den LKW leer.
Nach dieser noblen Aktion waren die Tonk Brothers defekt und unsere Cousins fragten sich kopfschüttelnd, wie man nur so doof sein kann.
Dann hinkten wir zum Main und betrachteten uns die Skyline vom Boden aus, pißten in die Böschung, rauchten eine Zigarrette und ließen das Tagewerk Revue passieren.
Wer hier wohnt, hat es sicherlich nicht immer leicht. Vielleicht hat Frankfurt auch deshalb nicht viele Bands hervorgebracht, an die man sich gern erinnert. Eine große Ausnahme bilden da die THREE O´CLOCK HEROES, ein unter Starkstrom stehendes Trio, das den mondänen Anspruch seiner Heimatstadt mit Liedern wie "Internationalist" oder "Ugly - But Home (Frankfurt City)" in die Welt trug. Leider überdauerten Frankfurt´s Finest keine zehn Jahre, hinterließen aber vier CDs, die alle glücklich machen und für Frohsinn sorgen, wenn man zum Beispiel auf THE JAM steht. Rund sechzig Songs bilden das akustische Vermächtnis, von dem die folgenden Generationen bitte zehren mögen, wenn es schon die damalige nicht tat. Je gehaltvoller die Texte gerieten, desto zeitloser wurden sie kostümiert. Da wurde zwar nichts neu erfunden, aber viel Altes clever zusammengeworfen. Die Musik stand dem Mod-Punk näher als dem Anarcho-Geknüppel, oft waren es wunderschöne Songs, die die rosenbewachsene Grenze zum Power-Pop auf Filzpantoffeln überschritten. Genau so werden übrigens Hits gemacht. Für den, der´s mal probieren will, hier nun exklusiv das Erfolgsrezept zum Mitschreiben: Nimm eine einfache Melodie, staffiere sie mit Details aus, inszeniere sie mit möglichst hoher spieltechnischer Finesse, wackel ein bißchen mit dem Arsch und beschwer dich hinterher nicht bei mir, wenn´s trotzdem nicht funktioniert.
Die THREE O´CLOCK HEROES waren auch live eine Granate. Wir spielten damals mit ihnen ein paar Konzerte, ich ließ sie sogar in meiner kleinen Wohnung übernachten und erlebte erstaunliches aus der Welt des Rock´n´Roll. So lernte ich jemanden kennen, in diesem Falle Sänger und Gitarrist Jason, der aussah wie Rod Stewart und spielte wie Paul Weller. Okay, damit kam ich noch klar.
Auch daß das Trio stets einen großen Vorrat an Äppelwoi dabei hatte, konnte ich ihnen als toleranter Mitteleuropäer nachsehen.
Aber daß dem Drummer Andy B. in Voerde beim Soundcheck eine Monitorbox von der Decke direkt auf den Kopf fiel und Eisenschädel im Anschluß ein Konzert spielte, als wäre der Gravitations-Crash so etwas wie ein Mückenstich, war echt heavy. Wer sowas überlebt, wird auch darüber hinwegkommen, daß viel zu wenig Leute das Potential dieser Band honorierten und sich die THREE O´CLOCK HEROES nach ein paar Tourneen mit PETER AND THE TEST TUBE BABIES viel zu früh auflösten.
Doch offensichtlich war der Abschied ein zu scharfes Schwert, denn zehn Jahre später reformierten sich THREE O´CLOCK HEROES wieder. Ich sah sie im Sommer 2006 im Vorprogramm von STEAKKNIFE und war nicht nur begeistert und berauscht, sondern auch verzückt und verzaubert. Und ich kann Ihnen sagen: Sofern sie sich inzwischen nicht wieder aufgelöst haben, sind sie in der Form ihres Lebens.

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