FEHLFARBEN
MONARCHIE UND ALLTAG
(BRD 1980)

Komisch, ich habe eigentlich niemals hinterfragt, warum ich Schlägereien, Massaker und Springerstiefel in der Schnauze so abstoßend finde, doch jetzt, während ich diesen Artikel schreibe, komme ich langsam dahinter. Verantwortlich sind wohl traumatische Erlebnisse der frühesten Kindheit, Geschehnisse, in denen ich zwar nicht unmittelbar involviert gewesen bin, mit denen ich aber konfrontiert wurde, sobald ich das Haus verließ. Genauer gesagt war es der friedfertige, emotionalisierte Umgang, der zwischen meinen Mitmenschen Anfang der 70er herrschte, speziell zwischen denen, die sich Teens und Twens schimpften. Es schien, als befände sich die ganze Jugend in einem versauten, französischen Film. Junge Menschen begegneten sich auf der Straße, faßten sich zur Begrüßung freundlich in den Schritt, umarmten einander mit kettenbehangenen, Tentakeln gleichenden Gliedmaßen, verbreiteten unschuldigen Optimismus mit strahlend weißen Mädchenzähnen, um sich ein paar Minuten später zu einem gigantischen Haarknäuel zu verflechten, das schnatternd zum nächsten Happening davonschwänzelt, wo es im Schneidersitz über den Sinn unserer Existenz philosophiert und Räucherstäbchen frisst. Im Bordgepäck: Diverse bewußtseinserweiternde Substanzen, die den Redefluß unterstützen.
Falls es Sie interessiert: Juliane Werding hat diese ausgelassene Aufbruchstimmung in ihrem Hit "Am Tag, als Conny Kramer starb" ganz vorzüglich beschrieben.
Orange forever! Oder etwa doch nicht? Aus unerfindlichen Gründen stürzte sich die Jugendkultur eine Dekade später in das genaue Gegenteil. New Wave, No Wave, Beton und Computer. Kein Wunder, daß meine schlaffe Generation mit dem Eintritt in dieses wichtige Jahrzehnt völlig überfordert war. Es war die Zeit der gestörten Einzelgänger, der Welt voller Feinde, der Umwelt voller Verschmutzung. Wenn es überhaupt einen Konsens gegeben haben mag, lautete dieser ANTI.
Die ersten Vorboten dieses destruktiven Lifestyles trafen mich völlig unvorbereitet. Mannesmann-Gymnasium, Klasse 8 E, elf Uhr morgens, Latein bei Schultz. Und plötzlich: Der erste Anti-Witz!
Geht ein Mann zur Haltestelle und als er da ankommt, ist der Bus weg.
Ich spürte, daß das der Moment war, in dem mich die Achtziger rechts überholten. Ich ertrug ihn mit einem ausdruckslosen Gesicht und aufrichtigem Unverständnis.
Treffen sich vier Enten. Am nächsten Tag sind drei von ihnen tot. Eine Woche später. Die andere jetzt auch.
Glauben Sie mir, es waren Witze vom anderen Stern. Fred hatte sie vom Jupiter geholt und mit dem ganzen Käse aufgeblasen, der gerade chic war: Nihilismus, Großstadt-Paranoia und eine Coolness, die mal locker vierzig Grad kälter war als die heutige.
Geht ein Möbelpacker an ´ner Mauer vorbei, kommt ´n Bäcker und geht genau auf ihn zu. Da dreht der sich um und geht weg.
Im Nachhinein frage ich mich natürlich schon, wieso man ausgerechnet mir derartiges Zeug erzählen mußte. Davor hatte es Zeiten gegeben, in denen mich die rot-weiße Strickjacke von Onkel Udo gut vor Idioten beschützte.
Steht ein Auto an ´ner Ampel. Plötzlich fängt´s an zu regnen.
Bald registrierte ich nicht nur grundlegende charakterliche Veränderungen bei meinen Schulfreunden, sondern auch in meiner Stadt. In den ehemaligen Räumlichkeiten einer gemütlichen Metzgerei entstand das Café Eisgrün, dessen Interieur aus kahlen Wänden, Neonröhren und Stahlträgern bestand. Immer, wenn ich in sicherem Abstand an dem Laden vorbeischlich und einen Blick durch das große Schaufenster riskierte, sah ich nur kaputte Typen.
Glücklicherweise hatte ich mich damals für einen anderen Way of Life entschieden und war gerade dabei, mir nach und nach all die Platten der 70er zuzulegen, wegen denen Punk entstanden war.
Parallel dazu, man hatte ja sonst nichts zu tun, schrieb ich mit Zepp ein Buch. Die Handlung verlegten wir in die 60er Jahre, von denen wir damals annahmen und später auch bestätigt bekamen, daß dort alles besser war. Wir arbeiteten etwa zwei Jahre an dem Schinken und als die erste Version im Jahr 1984 endlich fertig war, marschierten wir mit dem Script zum regelmäßig stattfindenden Dichtertreffen unserer Stadt, um die versammelten Fachleute und Spezialisten mit unserer Prosa zu beglücken. Ein bißchen nervös waren wir schon. Wir waren zwar cool, aber auch ziemlich gefühlsecht. Also taten wir das, was wir immer taten: viel Lambrusco trinken auf dem Fußmarsch durch die halbe Stadt.
Als wir endlich im Dellviertel ankamen, waren wir bereits gut angetüddelt und stolperten die Treppe zu den Dichtern hoch. Um ehrlich zu sein, erwarteten wir schon ein bißchen Halligalli, eine Prise Herzlichkeit unter Gleichgesinnten, ein paar warme Worte von Mensch zu Künstler, doch die Begrüßung war eher verhalten und, wie ich fand, auch ein wenig respektlos. Man forderte uns, auf einem alten Sofa Platz zu nehmen, den Betrieb nicht zu stören und die Schnauze zu halten. Gut, das taten wir. Jemand meinte Gedanken lesen zu können und brachte uns Tee. Der Abend drohte völlig außer Kontrolle zu geraten.
Wenig später stieg eine fusselige Frau zum Pult, setzte ihre Brille auf und begann, Auszüge ihrer selbstverfaßten Lyrik zu präsentieren. Mit einer Stimme, die gut mit ihren Ergüssen harmonierte, verlas sie holprig zusammengezimmerte Vierzeiler, die kein Klischee ausließen, welches man zwischen Menstruation und Mondschein bemühen kann. Während die anderen Poeten ergriffen lauschten, konnten Zepp und ich nicht anders, als immer wieder epileptisch in uns hineinzugibbeln. Vermutlich riefen wir mit unserem Verhalten einige böse Blicke hervor, aber da wir besoffen waren, standen unsere Sensoren erstmal auf lustig sein. Nachdem die Frau ihren Vortrag beendet hatte, wurde lange darüber diskutiert, was sie damit überhaupt sagen wollte. Dann kam ein dicker Mann, der unsere Zeit mit Reiseberichten aus der Toscana verschwendete, danach kam ein weiterer Stratege zu Wort und schließlich waren wir endlich dran. Wir erzählten ein bißchen darüber, worum es im Buch geht. "Dieser Sex-Drugs-und Rock´n´Roll-Kram, na, Sie wissen schon."
Damit war eigentlich alles gesagt, doch im selben Moment schob sich ein fahler, glatzköpfiger Schädel schildkrötenartig aus einem Hemdkragen und stellte eine Frage, deren Sinn sich mir bis heute nicht erschließen will: "Ist die Musik nur Vehikel dieses Buches?"
Ich weiß nicht mehr, wie wir auf diese Impertinenz reagiert haben, ich weiß nur noch, daß wir aus unserem Buch die Szene vorlasen, in der sich die Verwandtschaft der toten Mutter im Anschluß ihrer Beerdigung maßlos vollfrißt und daß unsere flockigen Zeilen den Toscanaheini derartig aufregten, daß er nur noch herumschrie "das ist Blasphemie!" Zum Glück stellte sich eine andere Frau sofort auf unsere Seite, eine dritte Person schaltete sich ein und nach fünf Minuten hatten sich zwei Lager gebildet, die sich konstruktiv anschrien. Da wir sowieso nicht mehr zu Wort kamen und langsam durstig wurden, ließen wir die Dichter ihre Schlacht schlagen und machten uns nach einer Stunde vom Acker. Das Manuskript verschwand im Schrank, wo es zusammen mit weiteren spätpubertären Geistesblitzen vor sich hingammelte.
Zwanzig Jahre später ist das Buch dann tatsächlich erschienen, gut Ding will wohl Weile haben. Erneut hatten wir ein paar Lesungen, die wir diesmal allerdings weitestgehend nüchtern bestritten, da wir inzwischen Spießer geworden sind.
Eine Veranstaltung fand in Düsseldorf statt, Brause hieß der Laden. Der Schuppen war stilvoll retrodekoriert, befand sich in einem ehemaligen Tankwärterhäuschen und erinnerte an ein erigiertes Wohnzimmer aus einem Russ Meyer-Porno. Betrieben wurde er von Leuten aus dem Blurr-Umfeld, was Prominenz und Lebenskünstler anzog. Wir kamen äußerst rechtzeitig an, da wir wie üblich unsere Leseecke noch mit Plattencovern und anderen Utensilien verzieren mußten, und als wir nach fünf Minuten damit fertig waren, hatten wir bis zur Lesung noch runde zwei Stunden Zeit.
Der Laden war noch leer, der Abend noch jung, das Bier noch Wasser, als plötzlich die Tür aufschwang und ein stilvoll zerlumpter Typ hereinschoss. Er trug einen dunklen Ledermantel, der seiner hageren Gestalt mehr Gewicht verlieh, darunter einen Schal und irgendeine Hose, die man sonst im Straßenbild nicht sieht. Ich schätzte den Kauz auf Mitte vierzig und sah auf den ersten Blick, daß er in einer Altbauwohnung lebt, gerne Rotwein trinkt seine Bilder in Fußgängerzonen verkauft. Auf Anhieb gefiel mir seine Frisur. Er trug die Haare relativ lang und ließ sie respektvoll über Ohren und Kragen wachsen. Ein großer, dunkler Schopf für die Adoleszenz, ein paar graue Strähnen für die Weisheit. Perfekt.
Er stellte sich an die Theke, beschaute sich unsere liebevoll gestaltete Beat-Kuschelecke und grinste. Wir kamen in´s Gespräch. Bestimmt eine halbe Stunde lang laberten wir über die KINKS, die PRETTY THINGS und all die anderen Helden und ich wunderte mich, daß der Mann sämtliche Texte von irgendwelchen obskuren B-Seiten rezitieren konnte, wollte und tat. Er machte das nicht aus plumper Protzerei. Seine Augen leuchteten, wenn er nur an manche Songs dachte, seine Stimme überschlug sich vor Begeisterung, wenn es an die Delikatessen ging. Ich war beeindruckt. Das war ein dermaßen ausgewiesener Fachmann, daß ich mir nicht vorstellen konnte, daß der Kollege sein Wissen in Kneipen verschleudert. Gerade, als ich ihn fragen wollte, ob er selber in einer Band spiele, zog mich Mona beiseite. "Sag mal, weißt du eigentlich, wer das ist?"
"Nee" sagte ich. Das war nicht gelogen.
"Das ist Peter Hein."
"Echt?"
"Ja, du Blödmann."
Nun gut, jetzt konnte ich höflich bleiben und mich nach dem Gesundheitszustand seiner Kapellen FEHLFARBEN und FAMILY 5 erkundigen, aber ich weiß gar nicht mehr, ob ich das auch wirklich tat. Und so bedankte ich mich noch in der gleichen Nacht bei meiner Herzensdame, daß sie mich vor einem bösen Faux-Pas bewahrte. Vermutlich gehört das Erkennen des Gesichts von Peter Hein zur Allgemeinbildung, zumindest dann, wenn man Bücher über Rockmusik schreibt. Diesen Schuh muß ich mir anziehen, aber was soll ich machen, das ist mein altes Problem: Ich kann unter den Kehrseiten von zweihundert Frauen in Jeans den Birnenarsch von Fräulein Bensel erkennen, den Wunderhintern von dieser blonden Hippe aus Wedau und vielleicht auch manches Popöchen des ein oder anderen GoGo-Girls aus dem Musikladen 1980, echt, das ist alles bei mir gespeichert, aber verdammt, ich kann mir nunmal keine Gesichter merken. Ich hab sogar mal Mona nicht erkannt, und zwar dummerweise an dem Abend, an dem ich ihr nach zehn Jahren innigen Zusammenlebens in einem griechischen Restaurant in Bad Münstereifel einen Heiratsantrag machte. Gut, ich hatte einen im Kahn, mußte oft auf die Toilette, und als ich da zum zehnten mal wieder rauskam, hatte ich natürlich nicht bemerkt, daß Frau Gemahlin ebenfalls Wasser lassen mußte. Wir liefen uns also im Gang wieder über den Weg, sie meinte nur "Guten Abend", ich grüßte freundlich zurück, ging weiter und ließ sie stehen. Was habe ich gestaunt, als mich die Schöne bis zu meinem Tisch verfolgte, sich mir gegenübersetzte und allmählich in Mona verwandelte. Der Heiratsantrag wurde übrigens abgelehnt. Angeblich wegen mangelnder Ernsthaftigkeit.
Selbiges will ich den Jungs von FEHLFARBEN natürlich nicht unterstellen, als sie ihren Klassiker "Monarchie und Alltag" erschufen. Wobei einem im Nachhinein schon auffällt, daß es ausgerechnet zwei erfolgreiche Komiker waren, die mit ihren damaligen Bands die FEHLFARBEN imitierten, als Anti-Witze schon längst wieder out waren. Die Bands hießen B1 und GESUNDES VOLKSEMPFINDEN und deren Sänger Herbert Knebel und Piet Klocke. Höre ich oft, den Mist. Könnte ich mich sogar an der Theke mit jemanden drüber unterhalten. Ich glaube, Herrn Knebel würde ich sogar erkennen.

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