BROWN LOBSTER TANK
TOOTHSMOKE
(USA 1995)

Ich weiß nicht, ob Sie zu den Menschen gehören, die einfach zum nächstbesten Zahnarzt gehen, wenn sie Zahnschmerzen haben. Falls dem so ist, tun Sie mir herzlich leid. Das ist so ziemlich das Dämlichste, was man tun kann.
Sie sollten wissen, daß man sich nicht leichtfertig für einen Zahnarzt entscheidet wie für ein Haus, das man kauft, oder für einen Menschen, den man heiratet. Die Wahl des Zahnarztes ist ein Entschluß, bei dem Bauch und Penis keine Rolle spielen, sondern eher so etwas wie ´funktionales Vertrauen`. Was die Sache nicht unbedingt vereinfacht. Ein Vertrauensverhältnis zwischen Opfer und Henker existiert nicht; es sind andere Kriterien, die ausschlaggebend sind. Nicht ganz einfach. Hinzu kommt, daß man zu gegebener Zeit auch noch erkennen sollte, wann das Vertrauensverhältnis, das ohnehin nicht existiert, zuende ist. Sie müssen in der Lage sein, für ihren Doc eine schwammige Zuneigung zu entwickeln. Und für diese Entscheidung brauchen Sie subtile Gründe, schließlich wollen Sie ja auch subtile Schmerzen.
Nachdem ich jahrelang den Fehler gemacht hatte, stets den Zahnarzt zu konsultieren, der am nächsten zu meinem Wohnort gelegen war, wählte ich meine Doktoren ab 1989 mit System. Dieses System beinhaltet, daß der Zahnarzt sich den Patienten, in diesem Falle mich, erstmal durch Sympathiepunkte verdienen muß.
Im Idealfall, der sowieso nie eintritt, bekäme man die Gelegenheit, vor der ersten Behandlung erst einmal gemeinsam einen Spaziergang zu machen oder drei Stunden bei vierzig Grad im Stau zu stehen, um sich näher kennenzulernen. Man könnte Gedanken zum Thema Dolly Buster austauschen oder prüfen, wie der Medizinmann auf AC/DC regiert.
Mein erster Zahnarzt dieser neuen Epoche hieß Atila und war Türke. Meine damalige Freundin war bei ihm angestellt, als er seine neuen Praxisräume eröffnete. Zur Feier des Tages gab es einen Sektempfang nach Feierabend, zu dem die überschaubare weibliche Belegschaft samt Stecher geladen waren. In der Wartezone, wo das Meeting stattfand, stand ein Aquarium.
Fische! Super!
Dort lernte ich meinen Doktor in spe etwas näher kennen, konnte seine Bewegungen studieren, seine Körpersprache hinsichtlich charakterlicher Defizite analysieren und in Ruhe abschätzen, ob der Mann zu brutalen Gefühlsausbrüchen neigt oder sonstwie cholerisch veranlagt ist. Was ihn mir spontan sympathisch machte, war, daß er wenig redete und keinen Bart trug. Im übrigen hatte er eine nette Frau, die Anästhesistin war und ein wenig so aussah wie Betty Blue in dem gleichnamigen Film, ich meine, sowas kann ja kein Zufall sein.
Ich ging davon aus, daß die beiden das Buch und den Film mochten und fand, daß das eine gute Basis für unsere weitere Zusammenarbeit war.
Ich ließ mir direkt ein paar Termine für eine langwierige Brücken- und Kronengeschichte geben. Bei den Behandlungen stellte ich fest, daß der Doktor auch dort sehr wenig spricht. Ich ließ ihn einfach machen, gab ihm die Zeit, die er brauchte und versuchte, seinen plötzlichen Inspirationen zu folgen. Er bog meinen Mund auf, saugte mir die Zunge sauber, stach mir in den Kiefer und schickte mich mittendrin für eine Stunde in die Wartezone. Fische!
Eine schlimme Sache, dieses Master & Servant, aber so funktioniert es nunmal. Und er war der Chef. Hätte er mir die Haare geschnitten, wäre das auch okay gewesen.
Unsere lose, schweigsame Verbindung hielt ungefähr elf Jahre und endete mit dem Tag, an dem mir der Mann mit schwitzendem Gesicht einen Weisheitszahn zog und die Schmerzen, die ich dabei hatte, alles andere als subtil waren.
Der neue Zahnarzt war ein älteres Semester. Mona hatte ihn nach einem komplizierten, esoterischen Auswahlverfahren ermittelt, wodurch ich mich auf der sicheren Seite wähnte. Bevor ich mir dort einen Termin geben ließ, beschaute ich mir zur Sicherheit aber noch das Haus, in dem der Mann residierte. Zwanziger Jahre Nobelzweckbau, weiß gestrichen, direkt am See gelegen, konnte man also machen.
Erste Recherchen in Form einiger anonymer Anrufe ergaben, daß der Doc den Laden alleine mit seiner Frau schmiss, was ich als positiv wertete. Mit Sicherheit würde die werte Gattin ihn bremsen, falls er durchdrehen sollte, aber das wird niemals passieren, da er alle Patienten vorsichtig und liebevoll behandelt, um vor seiner Frau nicht als brutales Schwein darzustehen.
Was soll ich sagen - genauso war es.
Alles, was in meiner Screen repariert werden mußte, bewerkstelligte der gute Mann mit High Level und Soft Touch. So wie man manchen Menschen gleich ansieht, daß sie die letzten Idioten sind, las ich beim Blick in sein entspanntes Gesicht, daß er sein Handwerk versteht.
Mit seinem kleinen, dünnen Schnauzbärtchen sah er aus wie ein schwuler, französischer Frisör, der am Mont Matre Touristen beschneidet und wenn man ihn bei der Arbeit beobachtete, wollte man am liebsten einen Rotwein mit ihm trinken. Auch das Wartezimmer sah nicht wirklich aus wie das Wartezimmer eines Zahnarztes. Es war recht dunkel in dem Raum, und das fahle Licht, das durch die zugezogenen Gardinen der Oberlichter fiel, reichte gerade mal aus, um sich beim Betreten des Zimmers nicht gleich auf die Fresse zu legen. Soweit ich das erkennen konnte, war das Mobiliar noch Original Wirtschaftswunder und hatte eine ungemein beruhigende Wirkung, wenn man, wie eigentlich immer, alleine dort saß und gar nicht anders konnte, als und an Adenauer und knallrote Gogomobile zu denken.
Kurz nach meiner letzten Behandlung ging der Wunderknabe in Rente und ich stand wieder ohne brauchbaren Dentisten da. Zwei Jahre ging das gut. Dann machte ein Backenzahn Ärger, dann war ich zwei Jahre lang Linkskauer und dann ließen sich die Schmerzen und das Pochen auch irgendwann nicht mehr von ASS Ratiopharm 500 am Wiederkommen hindern.
Ich erinnerte ich mich an den jungen, sympathisch wirkenden Gentleman, den ich vor einiger Zeit beim Einzug in seine neuen Praxisräume beobachtete, die sich im Eingang nebenan befanden. Er schleppte Kleinkram durch die Gegend, dirigierte gleichzeitig die Träger der Behandlungsstühle mit sanften Gesten und erweckte den Eindruck, als hätte er sich jede seiner Bewegungen vorher genau überlegt. Der Haarschnitt, der sich über seinen Kopf gegossen hatte, ließ ihn studentenhaft, fast jugendlich erscheinen und nahm ihm jede Strenge. Ich stiefelte ein paarmal runter in die Praxis, sagte Sachen wie "ihr Wagen blockiert schon wieder die Einfahrt" und erntete immer das verständnisvolle Lächeln, das dazu einlädt, sich dieser Person voll und ganz hinzugeben.
Wirklich ausschlaggebend, da will ich ehrlich sein, war aber die Wegstrecke zu seiner Werkstatt. Es versteht sich von selbst, daß man Zahnarztbesuche stets zu Fuß erledigt, um sich mental einigermaßen vorbereiten zu können, und wenn dieser Weg zehn Kilometer durch Wald, Flur und Felder führt, freut man sich auf jeden Termin. Man kann natürlich auch die Straße benutzen und wäre mit dem Auto in fünf Minuten vor Ort, allerdings kann man dann nicht in drei Stunden zwanzig Zigaretten zur Beruhigung rauchen.
Noch zwei allgemeine Tips, unabhängig von Haarschnitten und Bäumen: Lassen Sie sich nur am späten Nachmittag behandeln! In dieser Zeit erreicht der Bio-Rhythmus eines Menschen seinen Tiefpunkt und Ihnen wird dann alles egal sein. Erst Recht, wenn Sie vorher drei Stunden durch die Gegend gelatscht sind und sich mit einer Nikotinvergiftung herumschlagen müssen.
Außerdem ist es hilfreich, sich in kritischen Situationen von Bohrmaschinen, Spritzen und Hobel abzulenken. Summen Sie zum Beispiel "You Drive Me Ape (You Big Gorilla)" von den DICKIES, das ist ein guter Song, der nichts kostet. Und wenn Ihr Gegenüber plötzlich damit anfängt, leise mitzusingen, haben Sie den richtigen Zahnarzt gefunden.

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