KURT NILSEN
I
(NOR 2003)

Wenn Kinder ihre Pubertät ernst nehmen, kann es passieren, daß sie zu merkwürdigen Sonderlingen werden.
Es gab also Zeiten in meinem Leben, in denen ich Fan von den STRANGLERS und EMERSON, LAKE & PALMER gewesen bin. Vielleicht lag es an ihren Frisuren, vielleicht an ihrem Talent, Geld zu verpulvern, vielleicht aber auch daran, daß es damals einfach eine überschaubare Tätigkeit war, Fan von jemandem zu sein. Die Helden meldeten sich in bestimmten Intervallen mit neuen Singles und Geständnissen in der Bravo, in denen sie darüber berichteten, daß sie derzeit keine feste Freundin haben und all ihre Kraft und Gefühle in die Musik legen.
Mehr wußte man nicht über sie und mehr wollte man auch gar nicht wissen.
Heute, Sie werden davon gehört haben, kann man im Fernsehen verfolgen, wie jemand vom KFZ-Schlosser zum Superstar wird. Das ist zwar wesentlich witzloser als früher, weil beim Konsumenten die imaginäre Ebene durch eine visuell gesteuerte ersetzt wird, aber offensichtlich will der Fan das heutzutage so haben.
Ich muß gestehen, daß ich mir gelegentlich "Wer wird Millionär" anschaue, das ist diese Sendung, in der Deutschland den Superstar sucht. Natürlich interessiert mich nicht, ob Deutschland den Superstar findet, geschweige denn, ob jemand so schön singen kann wie Whitney Houston oder Celine Dion. Ich frage mich eher, wie es kommt, daß zweitausend Mädchen ausgerechnet "Killing Me Softly" plärren, also genau den Song, den nun wirklich niemand in den Mund nehmen sollte. Und macht es Ihnen nicht auch Angst, daß es immer noch rudelweise pummelige Landpomeranzen mit Hühnerstallfrisuren gibt, die sich mit angelegten, versteiften Armen hinstellen wie Bundeswehr-Rekruten beim Gelöbnis, und irgendein Lied aus "Flashdance" oder "Grease" aufsagen, das in der Dorfversion zwar keinen einzigen Ton mehr enthält, dafür aber haufenweise Sprachfehler und Dialekte.
Wahrscheinlich liegt es in der Natur des Menschen, daß gerade die talentfreien Exemplare am ehesten zur Selbstüberschätzung neigen. Zwar gibt es, das will ich nicht bestreiten, in der Sendung auch sympathische Dilettanten, die nach ihrem erbärmlichen Vortrag und dem entsprechenden Zeugnis von Musikgenie Dieter Bohlen, die Contenance bewahren und mit Würde (und manchmal auch Tränen) abtreten, aber die meisten entpuppen sich doch eher als verkannte Rohdiamanten ("Ich weiß, daß ich singen kann, Alter..."), die den Weltfrieden bedrohen ("...und ich mach weiter, ich schwör").
Es reicht also völlig, sich nur die Castings anzuschauen. Sie wollen nicht wirklich wissen, wer von den Kandidaten die beste Stimme, die größte Ausstrahlung und das bezauberndste Lächeln hat, nein, das wollen Sie nicht. Gemessen an den Musikern, die wir vergöttern, weil sie uns Songs schenken, die unser Leben verändern, sind industriell gefertigte Popstars keimfreie und gesichtslose technische Angestellte.
Mit einer Ausnahme. Im Jahr 2003 gewann Kurt Nilsen bei "Deutschland sucht den Superstar", allerdings in Norwegen. Hierzulande hätte das niemand, mich eingeschlossen, zur Kenntnis genommen, wenn nicht zufällig bei einem galaktischen Contest aller Superstars der Erde Kurt Nilsen den ersten und der deutsche Teilnehmer, ich glaube, er hieß Peter oder Alexander, den letzten Platz gemacht hätte. Ich kannte Herrn Nilsen natürlich nicht, war aber verblüfft darüber, daß die Medien übereinstimmend berichteten, daß er nicht unbedingt dem Bild eines Superstars entspricht, weil er klein und häßlich ist.
Wenig später sah ich in einer Klingeltonsendung zufällig ein Video von Nilsen. Er war wirklich häßlich, das machte ihn mir gleich sympathisch, hatte schief gewachsene Zähne und einen rotblonden Wuschelkopf. Er war auch nicht besonders groß, was den kindlichen Eindruck verstärkte, hatte ein lausbubenhaftes Lächeln und schelmisches Funkeln in den Augen. Alles in allem wirkte er wie die männliche Ausgabe von Pippi Langstrumpf.
In dem Video tanzten Mädchen, die hübscher waren als er, mit katzenhaften Bewegungen,
die besser aussahen, um ein Auto, das mehr PS hatte.
Nilsen wirkte unbeholfen und tapsig, aber er hat eine Hammerstimme und "She´s So High" ist einer der schönsten Popsongs, die ich je gehört habe.
Ich kaufte mir die CD, die den positiven Gesamteindruck im Großen und Ganzen bestätigt.
Wahrscheinlich, weil in dem Produkt genau die üblichen Geschmacksverstärker und Farbstoffe enthalten sind, die ich erwartet hatte. Und das ist auch in Ordnung. Wenn man einen Hamburger bestellt, will man kein Roastbeef.
Natürlich ist das glattpolierte, substanzlose Popmusik, über die man kein Wort mehr verlieren braucht, weil man sie jeden Tag im Radio hört, aber im Gegensatz zu dem hiesigen industriell gezüchteten Geblubber kommt es mir manchmal so vor, als hätten Nilsens Songs eine Seele, oder zumindest einen Rest davon.
Bei Werken von Justin Timberlake, Mariah Carey oder Christina Aguilera bin ich mir da nicht so sicher. Ich kann mir kaum vorstellen, daß für die Herrschaften eine nennenswerte Hörerschaft existiert, die bereit ist, sich dieser Musik freiwillig auszusetzen. Wahrscheinlich sind die drei auch deshalb so unbekannt und erfolglos.
Immerhin haben sie es geschafft, gemeinhin als begehrenswerte, attraktive Persönlichkeiten zu gelten.
Was man von Kurt Nilsen nicht gerade behaupten kann. Wahrscheinlich ist seine Platte genauso belanglos wie der ganze andere Schrott. Aber sie zeigt in all ihrer Konformität, daß auch Menschen mit koboldhaften Gesichtern Popstars werden können.

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