THE POGUES
RUM SODOMY & THE LASH
(GB 1985)

Egal, ob man zu Romanzen mit Kirsch-Zigarillos, Nena oder Tee fähig ist - wenn man Glück hat, sind postpubertäre Geschmacksverirrungen wie Hustenanfälle. Aus heiterem Himmel brechen sie über einen herein, so plötzlich und unvermittelt, daß man sie am besten gar nicht erst hinterfragt, sondern einfach geschehen läßt.
Was soll ich sagen, eines Tages begann ich mich für Irland zu interessieren. Es war nichts politisches, auch kein Fernweh nach grünen Wiesen. Ich verband Irland mit mit Guiness heruntergespülten Erdnüssen und dem Herumhängen in Pubs. Ich ging sogar mit einem Mädchen, von dem ich annahm, das es schwarze Unterwäsche trägt, zu Davey Arthur.
Meine irischen Sommer fanden ganzjährig statt und trieben mich irgendwann zur hiesigen Volksmusik, einem urwüchsigen Gedudel auf Instrumenten, die ich für ausgerottet gehalten hatte. Ein Irrtum, denn Tuten und Blasen war außerordentlich trendy in diesen Tagen. Das war Alkohol übrigens auch. Die Synthese aus beidem hieß THE POGUES und war eine musikalische Innovation in meinem Plattenschrank, der bereits mit AC/DC, Zeltinger und U.K. SUBS schon andere musikalischen Innovationen beherbergte. Natürlich war ich einer von denen, die erst die POGUES, und dann die DUBLINERS entdeckten. Das ist, als würde einen das Spiel der deutschen Nationalmannschaft zum Fußball-Fan machen.
Aber bevor wir vom Thema abkommen und ich erzählen kann, daß ich im gleichen Krankenhaus wie Nationalspieler Rüdiger Abramczik geboren wurde, möchte ich mich lieber darüber beklagen, daß ich nicht im selben Haus wie Günter Netzer wohne. Falls Sie das nicht interessieren sollte, hätte ich auch noch ein paar andere Tagesordnungspunkte auf Lager, denn über die POGUES braucht man wirklich keine großen Worte mehr verlieren. Sie lebten von dem Charisma Shane MacGowans und dem, was er verkörperte. Wenn man es aus heutiger Sicht betrachtet, grenzt es an ein Wunder, daß es ein Mann mit Segelohren und dentaler Müllkippe im Showgeschäft so weit bringen kann. Die einzige Chance, die Typen dieses Schlages haben, ist Authentizität. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als in seinen Liedern, seinen Texten und seinem Gang das Saufen zu glorifizieren.
Wieviele seiner Jünger diese Botschaft verstanden hatten, davon konnte ich mich bei einem Konzert im Jahre 1990 überzeugen. Als wir den Vorplatz der Essener Grugahalle erreichten, roch es bereits nach Schlacht. Pausenlos fuhren Krankenwagen umher und bahnten sich mühsam ihren Weg durch die ersten Kollateralschäden. Das Heulen der Martinshörner vermischte sich mit dem Gegröle von ratzevollen jungen Männern, die in Horden im Zickzack vor der Halle herumstolperten, dem Klirren von Flaschen, dem Zersplittern von Glas. Die Hinweise verdichteten sich, daß uns ein stilvoller Abend bevorstand.
Je näher wir der Halle kamen, desto schwieriger wurde das Laufen. Der Boden war mit Flaschen und Dosen tapeziert, mit jedem Schritt wurden es mehr, es war unfaßbar. Das Leergut bildete inzwischen einen nahezu geschlossenen, soliden Betonbelag aus grünem Glas und weißem Blech. Zwar stapften wir durch Essen-Holsterhausen, aber es fühlte sich an wie Skiurlaub in Österreich.
Als wir dann direkt vor der Halle standen, war der Asphalt völlig verschwunden. Wir vermuteten ihn etwa zwanzig Zentimeter unter uns. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und ich glaube auch nicht, daß ich etwas derartiges jemals wieder sehen werde. Ich war so beeindruckt, daß mich das Konzert nicht mehr sonderlich interessierte. Gleich am Eingang trat ich in einen Haufen Kotze, was meine Laune allerdings weniger verschlechterte als die Tatsache, daß der Abend den volkstümlichen Charakter eines Schützenfestes verbreitete. Jeder Schuß ein Treffer, besoffene Landeier, mittendrin Shane MacGowan als komischer Vogel. Pech für die Voyeure: Er wackelte, aber er fiel nicht.
Nach dem Gig war ich um eine Erkenntnis reicher: Die meisten Leute sehen Saufen als das, was es ist. Es gibt aber auch Menschen, die ein Gelage aus eher wissenschaftlichen Gründen praktizieren, mein Bruder zum Beispiel. Seit langer Zeit veranstaltet Peter sogenannte Altbiertest-Meetings, von denen eins kurz vor der Fußball-WM 1994 stattfand. Wie sich später zeigen sollte, warf dieses Ereignis seine Schatten bereits voraus, auch wenn das Altbiermeeting rustikale Erwachsenenbelustigung in einem ganz anderen Stadium bot.
Es kamen zwölf durstige Leute, neugierig wie Bolle, ob die Meisterbräus vergangener Jahre noch gegen die absterbenden Geschmacksnerven anstinken können. Mit dezenten Punk- und Countryrockklängen wurde man empfangen und DJ Peter Tonk fand auch im Laufe des Abends nichts Anstößiges daran, die UNDERTONES vor Wolf Maahn laufen zu lassen.
Zunächst einmal mußte jeder Tester für fünf Mark einen WM-Tip abgeben, was für die ersten Lacher sorgte. So prophezeite der Tip "Peter Kunz 1" zum Beispiel ein Spiel um den dritten Platz mit den Delinquenten Bulgarien und Schweiz. Peter Kunz 1 Begründung für diese Provokation: "Die Schweiz ist sowieso gut und die Bulgaren müssen gut spielen, weil sie ja alle in den Westen wollen." Brasilien wurde übrigens von neunzig Prozent der Tipper im Führungsquartett gesehen, die BRD hingegen nur von zwei, drei National-Linken. TAZ-Leserin Uta, weder Biertrinkerin, noch Fußballexpertin, aber trotzdem am Start, bekam feuchte Augen, als ihr der Tip
"Kuba, DDR, UdSSR und Jimi Hendrix" nahegelegt wurde. Schließlich entschied sie sich aber doch für die ihr sympathischen Argentinier, obwohl von denen zum Zeitpunkt des Turniers einer im Knast saß und der Rest des Haufens von oben bis unten tattoowiert war.
Es dauerte seine Zeit, aber irgendwann hatten wir für jedes Taka-Tuka-Land genügend Gründe zusammen, die für den Gewinn der Weltmeisterschaft sprachen. Nun konnten wir endlich mit dem Altbier-Test beginnen. In einem Zimmer voller Weihnachtsdevotionalien saßen also zwölf Personen um einen Tisch, auf dem neben Aschenbechern und Raucherutensilien auch ein gigantischer Pott mit Chips, Flips und dergleichen stand, um den Durst der Leute zu forcieren, beziehungsweise den Biergeschmack im Munde zu neutralisieren, was aber nicht immer gelang. So manches Bier schmeckte nach dem Pfeffer-Mix von Aldi und so mancher Gourmet gab dafür acht Punkte. Neben der Schüssel mit Knabberscheiße stand ein weiteres Behältnis, welches die wichtige Funktion hatte, die Wertungsunterlagen zu sammeln. Auf diesen besagten Papierschnipseln standen der Name des Jury-Mitglieds und dessen persönliche Wertung für die jeweilige Plörre in Zahlen (oder eventuell ein ordentliches Anarchie-Zeichen, wenn man der Meinung war, bei dem Paprikasaft handele es sich um eines der zwei zu erschmeckenden alkoholfreien Biere). Jeder bekam ein Glas mit seinem Namen darauf, welches von den beiden Damen des Organisationskommitees insgesamt 21 mal vollgemacht wurde. Anfangs wurde das Tablett noch mit lautem "Aaah" empfangen, stellenweise sogar mit La Ola. Später hielten sich die Freudengesänge doch stark in Grenzen, ja, man vernahm sogar erste Kommentare der Kategorie "wieviel kommen denn noch?", "schmeckt alles gleich" oder "ich kann nicht mehr". Bei Runde vierzehn oder fünfzehn drohte die Stimmung zu kippen, aber mein Bruder brillierte in dieser schweren Etappe mit seinem Anliegen "ich möchte ´ne große Portion". Die Unterbrechungen zwischen den Netto-Trinkzeiten wurden immer länger, genau wie die Schlange vor dem Klo. Stellenweise schlichen sich jetzt lange Gesichter ein. Etwa bei Olli, dem ein Bier überhaupt nicht schmeckte und der sich ziemlich sicher war, daß es sich bei dem eben kredenzten schäumenden Nass um einen "Scherzartikel" handeln müsse. Andere Jury-Mitglieder ließen Trinken und Bewerten eine zeitlang außen vor und beschränkten sich darauf, mit Erdnußflips die Wahlurne zu treffen. Auch Ralf wurde recht fix immer breiter und behauptete bei Kilometer 120, er hätte die damals elfjährige Andrea Jürgens aus Herne zur Zeit ihres großen Hits "Und dabei liebe ich Euch beide" attraktiver gefunden, als jetzt mit ihrer duften Dauerwelle, was die Belegschaft mit spantanen "Kinderficker!"-Rufen quittierte. Sodann wurde Haß gesät und den Tonk-Brüdern vorgeworfen, im Jahre 1979 Peter Maffay gut gefunden zu haben, überhaupt rutschte das Unterhaltungs-Niveau mehr und mehr in den Keller. Als Udo Nagels dann noch aus Versehen einen vier Jahre alten Schokoladen-Nikolaus von meinem Bruder aufaß, kam kurzzeitig nochmal Stimmung auf und der Club der roten Richter schlitterte mehr als würdevoll in die Zielkurve und glänzte mit Sprüchen wie "wer produziert denn sowas?", "wenn mir die Galle hochkommt, schmeckt es auch so" oder "warum wird so ein Bier überhaupt gebraut?". Um kurz nach neun hatte Udo Nagels einen Nikolaus im Bauch und längst Frieden mit sich und der Welt geschlossen. So ließ er sich zu einem bemerkenswerten "schmeckt durchgehend neutral" hinreißen und traf damit den Nerv der Protagonisten. Es ging auf Mitternacht zu. In der Nachspielzeit mobilisierte das "Altbierlied" von einer bekannten deutschen Stimmungskapelle die letzten Reserven und trieb die Leute aus verschiedenen Gründen dazu, ihre Gläser schnell auszutrinken. Dann war es geschafft und wir hatten einen Sieger ertrunken. Gewonnen hat Felskrone, das Bier, von dem eine Flasche damals neunundzwanzig Pfennige kostete. Kurz danach schwang ich mich von Pfahl zu Pfahl nach Hause und begrüßte die Dame des Hauses mit wehender Fahne. Genau wie der Typ in der ersten Strophe von "A Pair Of Brown Eyes".

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