THE SHANGRI-LAS
LEADER OF THE PACK
(USA 1964-1967)

Wenn es eine Verbindung gibt zwischen Karnevalsschlagern und dem Ritual, fremden Frauen in die Bluse zu greifen, müßte eigentlich auch ein Zusammenhang zwischen Lovesongs und Kindern, die auf Rummelplätzen oder Autositzen gezeugt werden, existieren.
Aber so wunderbar der Vorgang des Besamens auch ist, so unergründlich und vom Zufall bestimmt scheint dagegen die Wahl des richtigen Moments. Der eine entsteht auf edelster Seide, der andere in der Geisterbahn. Der eine geht zum Arbeitsamt, der andere in den Tennis-Club, der eine zahlt, der andere kassiert und so weiter, aber wer will das wirklich wissen?
Ohnehin viel interessanter sind die Stätten der Sünde, die Tempel der Liebe und die Faszination, die sie auf Teenager ausüben. Zuallererst mal die Kirmes, dann abgelegene Waldparkplätze, früher die Autokinos, jetzt Tankstellen und Drive-Ins in neonerleuchteten Gewerbegebieten. Es klingt vielleicht bescheuert, aber an Orten wie diesen kann / konnte man eine Art von Romantik erleben, die sich in späteren Jahren nicht mehr reproduzieren läßt. Auch nicht, wenn man an genau der Stelle nüchtern ist, wo man früher stets besoffen war. Doch es ist nicht das Erinnern an den ersten Vollrausch und die Kotze am Armaturenbrett, was plötzlich Übelkeit hervorruft, nein, es ist das häßliche Wort früher und die Melancholie, die es mit sich trägt, denn die Jahre verfliegen schneller, als sich die NEW BOMB TURKS durch 21 Songs hacken können.
Sicher, du meinst, du bist cool, weil du dir ein Piercing durch den Nasenflügel gezogen hast, du denkst, du bist jung, weil dein Arsch in der neuen Schlaghose aussieht wie ein junger Kürbis in ´ner Alditüte, aber vergiß es, Schätzchen, du hast keine Chance, wenn deine Pubertät zwanzig Jahre zurückliegt.
Klar, man kann sich eine Adoleszenz zurechtzimmern, man kann sich in der Mitte seines Lebens auch ohne Schlaghosen und Piercings ungesund ernähren und Konzerte in Jugendzentren besuchen, aber man kann das Gefühl nicht zurückholen, nicht die Teenage Love und ihre anspruchslose Unschuld, die bewirkt, daß stinknormale Küsse mit 14 prickelnder sind, als das ganze Kama Sutra zwanzig Jahre später.
Leider weiß man das in jungen Jahren noch nicht. Wenn man 14 ist, findet man alles Scheiße. Offensichtlich hat es die Natur so eingerichtet, daß Menschen immer einen Grund haben, unzufrieden zu sein.
Aber man ist ein doofer Teenager, wenn man schnell erwachsen werden will, denn es ist gut, wenn man 14 ist. 14 ist besser als 94. Man sollte diese Jahre genießen, denn das ist die große Zeit des Teenagebobbywoppyheulundfummelpop. Die Welt ist eine Bühne, der Himmel hängt voller Geigen und es gibt keine Zweifel daran, daß alle Liebeslieder nur für eine Person geschrieben wurden, nämlich einzig und allein für die, in die man gerade verknallt ist.
Tief im Herzen spürt ein Teenager, daß diese Musik ehrlich ist. Wenn ehrliche Musik auch ehrliche Gefühle erzeugt, ist nicht ganz unerheblich, in welcher Dekade man heranwächst. Es könnte ja sein, daß das ehrliche Empfinden bestimmter Musik schwere psychische Schäden verursacht. Rein hypothetisch natürlich. Wirklich nur für den Fall, daß es Unterschiede zwischen "All I Have To Do Is Dream" von den EVERLY BROTHERS oder "Only The Lonely" von Roy Orbison auf der einen und "Verpiß Dich" von TIC TAC TOE oder "Du liebst mich nicht" von Sabrina Feldbusch auf der anderen Seite geben sollte.
Das Dilemma an der Popmusik ist, daß Popmusikproduktionsfirmen mit ihr schnell reich werden können, wenn sie den Geschmack der breiten Masse treffen. Da die Macher hierbei in erster Linie dem Zeitgeist und dem Portemonnaie vieler dummer Menschen verpflichtet sind und ihre Hightech-Sülze auch noch dem von Rundfunkstationen und DJs genormten Produktionsstandard unterliegt, ist das einzig auffällige an der heutigen Popmusik ihre enorme Gesichtslosigkeit.
Das ändert natürlich nichts daran, daß nach wie vor die behämmertsten Nummern zu Hits werden. Sei´s drum, ein Blick in die Charts sagt viel aus über den Zustand eines Volkes. Aber nur weil viele Schafe Scheiße fressen, muß Scheiße noch lange nicht gut schmecken.
Der beste Soundtrack einer Jugend ist Teenagermusik, die mit den Konventionen und Statussymbolen aus der Welt der Erwachsenen spielt, Teenagermusik, der man nicht anmerkt, daß sie von Erwachsenen gemacht wird, Teenagermusik, von der man vielmehr glaubt, sie würde sich einen Dreck um Erwachsene scheren.
Eine gute 3-Minuten-Nummer muß allen alles bieten. Denen, die sie hassen, denen, die sie nur im Radio beim Abwasch hören und erst recht denen, für die "Wake Me Up Before You Go-Go" das Evangelium bedeutet, weil sie sich endlich verstanden fühlen. Letzteres ist übrigens keine große Kunst. Solange man ein Loch in den Schnee pissen kann, solange wird man immer einen Titel finden, der zu einem paßt. Irgendein Singsang in der großen weiten Welt wird die eigene Lebenssituation so treffend beschreiben, daß man beim ersten Hören weiß: Wenn dich dieser Sänger nicht heiratet, bringst du dich um.
Das gute am Pop ist, daß man dabei das Recht auf seiner Seite hat. Vielleicht nicht im juristischen Sinne, aber moralisch. Wer als Teenager bereit ist, sich auf diese Musik einzulassen, kann das volle Programm durchziehen. Im Bett bleiben. Schule abbrechen. Liebe machen.
Man kann Eltern verstehen, wenn sie gegen Bill Haley, Mick Jagger, Ozzy Osbourne oder Marilyn Manson wettern, denn es ist eine böse Musik, die ihre Kinder auf andere Gedanken bringt.
Sie wurde sogar extra dazu geschaffen, Halbwüchsige aus der realen Welt zu entführen und sie in ein Paralleluniversum zu beamen, einem pinkfarbenen, heißen Ort, der nur aus Klischees besteht und in dem schräge Typen die geilsten sind.
Herrlich!
Inzwischen liegt ein halbes Jahrhundert Teenagerkultur hinter uns. Fünfzig Jahre lang die ewig alten Geschichten mit immer neuen Gesichtern, von denen kein einziges dazu in der Lage ist, einen Orgasmus einigermaßen glaubhaft vorzutäuschen. In der Summe ergeben die unzähligen billigen Liebes-und Geilheitslieder einen hübschen Berg Industriemüll, aus dem die wirklich guten Sachen so prägnant herausragen, daß sie gleich in Bildbänden, CD-Boxen und in den Herzen vieler Menschen archiviert werden.
Was kann man anderes sagen, als daß die aufregendste Zeit die 60er Jahre waren? Die Musik, die sich damals immer häufiger in den Single-Charts wiederfand, war so konzepiert, daß sie beim Hörer auf das obere Limit der Gefühlsskala stieß. Auf diese Weise konnte sich Zufriedenheit schnell in Euphorie und Traurigkeit in Todessehnsucht verwandeln.
Wenn wir THE BEATLES, THE STONES, THE WHO, THE MOVE, THE KINKS, THE BYRDS, THE BEACH BOYS, THE CREATION, THE VENTURES, THE DOORS und THE BOB DYLAN mal außen vor lassen, war es die Zeit, in der Phil Spector, Del Shannon und DION & THE BELMONTS die Lebensqualität maßgeblich mitbestimmten. Selbst bei der gemäßigten Fraktion wie Paul Anka, Neil Sedaka und Gene Pitney konnte man zu dieser Zeit den Eindruck gewinnen, daß sie das, was sie sangen, auch ernst nahmen.
Fraglich, inwieweit die Interpreten selbst einen Anteil daran hatten, denn es waren nicht die Texte, sondern der Sound, der erstmals so klang, als hätte er verinnerlicht, daß es in einer Welt voller Liebe auch Gewalt und Drogen gibt. Die Produktionen gerieten zum Breitwanderlebnis, inszeniert mit harten Beats und teilweise unglaublichen Arrangements. Sie gewannen an Tiefe und Dramatik, wirkten subtil und abgründig, genau so, als sendeten sie verschlüsselte Botschaften an die Eingeweihten.
Die SHANGRI-LAS aus New York perfektionierten unter der Regie ihres Produzenten Shadow Morton diese lukrative Geschäftsidee, indem sie diese Essenz des Teenage Dreams thematisierten, in ihre Musik implantierten und dabei ein bißchen mit den Ärschen wackelten.
In ihren großen Hits "Leader Of The Pack", "Remember (Walking In The Sand)", "Out In The Streets" und "Give Him A Great Big Kiss" besangen sie in drei Minuten das Elend, das man in James Dean- Filmen zwei Stunden lang zu sehen bekam.
Die Gruppe bestand anfangs aus den beiden Geschwisterpaaren Bett und Mary Weiss sowie Marge and Mary-Ann Ganser und die Jahre von 1964 bis 1967 reichten aus, um ihren Namen dank einer handvoll gelungener Mini-Dramen auf ewig in die Rock-Annalen zu meißeln. Die besten von ihnen befinden sich auf zahlreichen Compilations und Best-Ofs. Da findet sich sicher was für 99 Cent. Ob man dann allerdings auch so ein schönes Cover wie bei "Leader Of The Pack" auf Red Bird Records bekommt, sei mal dahingestellt. Dieses Frontfoto bietet einen eigenen, vielleicht sogar den einzig wahren Lösungsansatz, der junge Menschen aus der Depression führt: Hohe Stiefel, drei Miezen und ein Moped. Ja, ich glaube, man sollte diesen Way of Life einschlagen, wenn man jung ist, Benzin und viel Zeit hat.
Noch besser, man hat eine Zeitmaschine, denn ab 1977 machte das Teenagersein keinen Spaß mehr, da sich der Popmusik immer häufiger dekadente Coolness und unverhüllte Ironie dazugesellten. Der Punk kam in die Kinderzimmer. Gegenwart und Zukunftsperspektiven wurden nicht mehr rosarot verklärt. Wer sich die Rüstungsprogramme und Arbeitslosenstatistiken dieser Zeit vergegenwärtigte, brauchte vor Motorrad-Gangs keine Angst mehr zu haben.
Das Zeitalter der elektronischen Massenproduktion begann und mit ihm die Produktion von industriellem Wegwerf-Pop. Spätestens ab 1983/84 gab es in den Charts kaum noch Songs, die sich nicht nach Fabrik anhörten und spätestens ab dem Erfolg von MODERN TALKING war klar, daß Popmusik jeden Respekt vor sich selbst verloren hatte.
Von diesem Schock hat man sich bis heute nicht erholt. Die Majors leben nur noch vom Verheizen immer neuer Hackfressen, dem Recyclen von alten Hits oder dem Verkauf konstruierter Images. Warum eigentlich? Plastikpüppchen werden immer aus Plastik bleiben, da können sie noch so viel Leder tragen.
Authentizität wäre eine Lösung. Statt darüber zu rappen, wieviel Frauen man in einer Nacht flachlegt, könnte man darüber singen, wie man beim Wichsen andauernd mit der Hand abrutscht.
Beim Motorradfahren zum Beispiel.

|| nach oben