SLADE
OLD NEW BORROWED AND BLUE
(GB 1974)

In grauer Vorzeit, als ich noch überall Haare hatte und mit einer Keule herumlief, fuhr meine Sippe mit mir alle zwei Wochen zur Oma nach Gelsenkirchen-Erle. Pünktlich zum Blauen Bock versammelte sich die Familie, zu der auch irgendwie Frau Moos vom Parterre gehörte, um eine Schüssel Kartoffelsalat und lästerte über abwesende Nachbarn und die Halunken von der CDU. Hinterher, während die Frauen in der Küche den Abwasch erledigten, wurde dann meist noch ein ordentlicher Skat gekloppt, der stets mit den gleichen Worten eingeleitet wurde: "Junge, geh mal zur Bude und hol uns acht Flaschen Bier."
Hinter der Küche lag das Zimmer meiner Tante. Sie war sechs Jahre älter als ich, also 15. Ein Alter, in dem man sich nicht mehr für Jesus interessiert. Dementsprechend sahen ihre Schulbücher aus, die sie manchmal aus dem Ranzen zog, um sie auf den Tisch zu legen und anzuschauen. Von kleinen Herzchen umgeben standen dort Namen wie Norbert Nigbur, Aki Lütkebomert und Brian Connolly. Ohne Herz, dafür aber in Großbuchstaben NAZARETH, SWEET und SCHALKE. Tante in love. Man kann sich vorstellen, wie ihr Zimmer ausgesehen hat.
Im Zeichen des Steinbocks geborene Teenager kennen keine Kompromisse. Und wo Gary Glitter die Gang regierte, hatte Oma nicht mehr viel zu sagen.
Für ein paar Jahre war dieses Kabuff fanny fanny für Hellraiser mit Teenage Rampage, denn hier hatte der Ballroom Blitz eingeschlagen. Die Wände waren mit Bravo-Posters aller Art zugekleistert und zwar so, daß es mit Ausnahme des Lichtschalters keine freie Stelle mehr gab.
An der Decke klebte der komplette Starschnitt von Winnetou dem Ersten, den Rest dichteten ein paar Bahnen Alufolie ab. Das Mobilar bestand aus wild zusammengewürfeltem Gelsenkirchener Barock, teilweise mit Pril-Blumen beklebt. Neben den beiden blauen Cocktail-Sesseln lag ihre Plattensammlung: Eine handvoll LPs und ein Sammel-Aamberg Initialsat. Vicky Leandros, Heino und Uriah Heep warteten dort völlig gleichberechtigt auf ihre Sternstunden, von denen stets eine Mark an einen karitativen Zweck ging, wenn Wim Thoelke sie präsentierte.
Inmitten dieser kulturellen Zahnarztpraxis wohnte auch My Friend Stan, eine Single von Slade. Solange, bis ich sie entdeckte und in einer Tour abdudelte, während die Männer Skat spielten und die Frauen am Eierlikör nippten. My Friend Stan war meine erste Begegnung mit der neuen Generation außerirdischer Licht- und Flittergestalten und ich fiel direkt in Liebe. Als dann das Christkind meiner Tante auch noch die Best-Of-LP Sladest schenkte und ich mich damit selber anfixte, waren im selben Moment die Weichen für mein späteres Leben gestellt. Die Musik dieses schrägen Haufens rockte mich zu einem süchtigen Stöpsel. Und als ein Mann sah ich die Sonne aufgehn (ich war kein Kind mehr). Schön, ich hatte zwar noch keine Haare am Sack, aber auf Good Time Girls wollte ich ab sofort nicht mehr verzichten. Naseweise entwarf ich einen Karriereplan: Schnellstmöglich groß werden, sich einen silbernen Anzug besorgen und einer glitzernden Zukunft sollte nichts mehr im Wege stehen. Also begann ich, Prioritäten zu setzen, gerade, was berufliches Disaster betrifft. Während die herkömmlichen Bengel aus meiner Klasse gerne Lokführer, Astronaut oder Pornodarsteller werden wollten, langte es mir erstmal, später einmal alle Slade-LPs zu besitzen.
Da ich kein Schwätzer bin, machte ich im Laufe der Zeit mein Gelübde wahr und kann mir nun also ein qualifiziertes Urteil über das Gesamtwerk der vier Glitzerknaben aus Wolverhampton, dem englischen Duisburg, erlauben. Und ich sage Euch: Jeder, der nicht mindestens eine Slade-LP besitzt, ist eine ganz große Pißnelke und gehört abgeschoben nach Hatschikistan.
Der Rest der Bevölkerung hat Bleiberecht. Ich stelle mir das so vor, daß wir dann zusammen ´ne Flitter- und Fummel-Republik aufbauen, in Frieden alt werden und in Boots sterben. So, wie es die Herren Powell, Lea, Holder und Hill vor uns getan haben.
Ihr Vermächtnis, rund zwei Dutzend Alben, zu denen man wichsen kann, definiert Teenagerkultur schlechthin und kickt die anderen Lackaffen zurück in die Gummizelle. Ein Wunder, daß nach Slade einige Bands noch die Frechheit besaßen, überhaupt Musik zu machen! Trotzdem: Konkurrenz hat es für Slade nie gegeben. Jedenfalls keine ernstzunehmende.
Das Erbe dieser Band führt uns von ihren Anfängen als Die vier Karl Ärsche (Working Class-Romantik: Ich bin stolz, meinem Chef die Villa zu finanzieren) bis hin zum finalen Erbrechen in Rockstar-Mänteln und zeigt, daß man nur als Karikatur wirklich glaubwürdig rüberkommt. Womit wir beim Thema Noddy Holder wären, der sich seit frühester Jugend mit dem Attribut "lebende Alkoholleiche" schmücken durfte und dementsprechend aussah, kroch und sang. Noddy war ein Sympathieträger in albernen Klamotten, der -man sieht es in alten "disco"-Folgen- vor lauter Gegibbel fast das Gröhlen vergaß. Angesichts von Songtiteln wie "Kratz meinen Rücken" oder dem Fußball-Smasher "Gib uns ein Tor" durchaus verständlich. Leute wie Noddy sind es, die in der Regel viel zu früh sterben und so kam es, daß man seit den Mitt-80ern nichts mehr von ihm hörte. Ihm zur Seite stand Dave Hill, ein hasenzahniger Abenteuergitarrist, der ungefähr so spielte, wie er aussah: Laut, häßlich und mit unberechenbaren Stilblüten. Seine Fills in Gypsy Roadhog machen ihn genauso unsterblich wie Jimmy Lea, der immerhin die meisten Slade-Kracher komponierte. Das lag wohl daran, daß er trotz seines Jobs als Bassist ein ziemlicher Musiker war, der sogar Geige spielen konnte, ja kuck mal einer an!
In den späten 60ern fingen Slade als Skinhead-Band an, ohne jemals das Wort "oi" benutzt zu haben. Aber sie trugen ihre Haare kurz. Das Risiko, sich mit einer Locke da zu verfangen, wo sich Arbeiter gewöhnlich aufhalten, nämlich an der Stanzmaschine, war einfach zu groß.
Kurz darauf trafen sie den ehemaligen Animals-Bassisten Chas Chandler, der ihnen sagte, wie scheiße sie mit ihren wenigen Haaren aussehen und ihnen die dringend nötige Imagekorrektur verpaßte. Von da an ging es nur noch aufwärts und zwar für satte sieben Jahre. Unzählige Hits, gebraut aus frischem Rock´n´Roll, Hysterie und gelegentlich etwas Sentimentalität wurden, nachdem man sie alle mit hymnenhaften Refrains ausgestattet hatte, von dem singenden Frühwarnsystem Noddy Holder in viele Teenystuben der westlichen Welt gefeuert, um dort weiterzulodern. Aus dieser Zeit stammt auch das Album Old New Borrowed And Blue, das die ganze Palette des sladestischen Musikverständnisses zeigt. Auf dem Cover komische Frisuren, auf den Innenseiten die geballte Rechtschreibanarchie, auf der Platte Punk und Hardcore, in gewisser Weise. Mit dem Unterschied, daß die Welt 74 verglichen mit heute noch in Ordnung war und es demzufolge keinen Anlaß gab, sich mit boshaften Texten gegen das Establishment oder gar die eigene Königin wichtig zu machen. Die Möse von Miss Jane stand ihnen näher als langweiliges Problemgequatsche, was die Statistik eindeutig belegt: 98% Girls´n´Roses, 2% Guns´n´Sonstiges. Das macht Sinn. Schließlich ist in England mehr Frieden als Krieg.
1977 nahmen Slade mit dem Hartgummigeschoss Whatever Happened To Slade die härteste Platte der Welt auf, angeblich -so will es die Legende- sogar auf den Toiletten des Studios. Schön, daß das Ergebnis alles andere als Null-Null ist. Zäh wie Flüssigseife, flink wie Durchfall, hart wie Kalk am Pißbecken. Seit diese Platte bei mir Regal steht, habe ich es noch nicht geschafft, beide Seiten hintereinander zu hören. Ich habe Angst davor. Angst um meinen Verstärker, meine Boxen und meinen Kreislauf. Diese Platte ist so hart und schrill, daß 99 Luftballons nicht ausreichen, um ihre Wucht zu beschreiben. Also lassen wir´s.
Es folgten drei weitere, astreine Hardrock-Platten mit Westkurven-Geschrei, es folgten die Hits My Oh My und Run Run Away und es folgte das Aus. Slade waren Geschichte, gerade als die Welt sie am nötigsten brauchte, um gegen das Synthie-Pop-Gesülze anzustinken. Mir ging´s wirklich beschissen, Mann. Hinzu kam noch der persönliche Ärger. Kate Jackson aus Drei Engel für Charlie hatte auf einmal Locken, Aldi erhöhte die Preise für Dosenbier und meine Freundin vertrug die Pille nicht mehr. No Future für das süße Leben.
Ich vergammelte zusehends. Zwar schenkte mir der Konsum von Hape Kerkeling und Deutschpunk in stillen Stunden noch ein wenig Komik, ja, auch die unverwüstliche, treue Kaffeemaschine von Severin gab mir Halt, doch all das war kein Ersatz für Noddy und seine Jungs. Elend und Siechtum, wohin man blickte. Bis mein Bruder vor drei Jahren nach Cambridge fuhr, um dort für zwölf Monate zu leben und Fotos vom britischen Aldi zu machen. Oder sagen wir besser: Eine Foto-Reportage.
Der bekloppte Hund! Fein säuberlich nummeriert dokumentieren die etwa sechzig Bilder den Gang meines Bruders von seiner Küche zu seinem Aldi-Markt, setzen dabei Schwerpunkte auf die Regalarchitektur und das Warensortiment. Manche Fotos mußte er heimlich schießen, sagt er. Sonst hätten sie ihn mitgenommen und irgendwo eingewiesen. Werksspionage. Nur was für harte Jungs. Jedenfalls ist ja nochmal alles gut gegangen und so konnte er mir eines Tages einen Brief schicken, dem ein Zeitungsartikel beigelegt war. Ich konnte nicht glauben, was ich dort sah: Noddy Holder lebt noch! Echt! Er lacht, er scheisst, er atmet. Und er arbeitet als DJ bei irgendeiner Radiostation. Es geht ihm gut. Fein. An die Arbeit, Junge! Wann kommt die neue Platte?

|| nach oben