ZZ TOP
TEJAS
(TEXAS 1976)

Jemand hatte den Backofen angestellt. Der Juli hier unten war so heiß, daß der Teer auf den Straßen bereits am Morgen Blasen warf. Seit Stunden stand die Sonne senkrecht über unseren Köpfen und begleitete uns, wenn wir über das Gleis zum Pinkeln gingen oder an der gelb gestrichenen Holzbarracke Weißbrot und Bier kauften, und sie wanderte mit uns mit, wenn wir wieder schwitzend zu unserer Bank zurückkehrten.
Wahrscheinlich befanden wir uns auf einem Bahnhof. Allerdings hatte keiner von uns bislang einen Zug einfahren sehen. Aber es gab ein Gleis, ein Schalterhäuschen und die Bank, auf der wir saßen. Das nährte die Hoffnung, innerhalb der nächsten Tage von hier wegzukommen, denn wir hatten hatten nicht wirklich eine Ahnung, wo wir uns gerade befanden. Viel Alkohol, wenig Anhaltspunkte. Wenn wir uns nicht arg verrechnet hatten, mußten wir irgendwo in Jugoslawien stecken und wenn wir die Gebäude und die eigentümlich gekleideten Ureinwohner zum Maßstab nahmen, schrieben wir das Jahr 1910.
Da selbst das Rauchen von Zigaretten viel zu anstrengend war, dösten wir in der Hitze bewegungslos vor uns hin und sehnten uns nach allem, was zuhause im Kühlschrank steht.
"Na bitte" bemerkte Zepp in einem leicht lethargischen, schwer ausgetrockneten Tonfall, als irgendwann tatsächlich ein Zug keuchend vor unsere Füße kroch. Wir sammelten unseren Hausrat zusammen, der aus zwei Rucksäcken und Penntüten, etwas Marschverpflegung und einem Zehn-Liter-Kanister mit Wasser bestand, und stiegen ein.
Ich glaube, daß wir in diesem Moment den Zug nach Nirgendwo entdeckt hatten, den Christian Anders so herzzerreißend besingt, wenngleich der Zug eher eine Bimmelbahn war.
Das Teil tuckerte behäbig durch die Gegend, während wir durch´s Fenster schauten und schwitzten. Schon nach wenigen Minuten waren keine Häuser, keine Scheunen und keine Anzeichen von Zivilisation mehr zu sehen. Stattdessen erhoben sich am Horizont, der jetzt nur ein paar hundert Meter entfernt verlief, sanft geschwungene Felshügel mit vereinzelten Nadelhölzern und anderem Gestrüpp, ausgedörrte Wiesen und tote Bäume im goldgelben Licht der frühen Abendsonne. Eine Landschaft wie aus einem Winnetou-Film. Fantastisch. Zumal wir ja gerade auf Interrail-Tour waren und die Leben von Tom Sawyer und Huckleberry Finn führten.
Wenig später drosselte der Zug sein Schneckentempo, wurde noch langsamer und kam schließlich ganz zum Stehen. Mitten in der Pampa.
Zepp und ich schauten uns an. Dann entriegelten wir die Tür und sprangen raus.
Nachdem wir uns durch das Gelände gekugelt hatten, entdeckten wir eine Wiese, die sich bis zur kargen Hügelkette erstreckte und mit ihrer steppenartigen Schlichtheit wie geschaffen schien, auf ihr den schönsten Abend des Lebens zu verbringen. Aber natürlich braucht man Hilfsmittel, um in Stimmung zu kommen.
Wir nahmen den Kanister und fügten dem lauwarmen Wasser noch zwei Tüten Orangensaftpulver und ein Liter Sliwowitz hinzu, schüttelten die Hausbar ein paarmal im Uhrzeigersinn und ließen den Cocktail noch etwa eine Minute gut durchbacken. Dann begannen wir damit, uns das Zeug in die Birne zu pfeifen und den Kassettenrekorder anzuschmeißen, einen Nullkommafünf-Watt-Nettoblaster, der zwar dreimal so groß war wie ein Rasierapparat, aber nur halb so laut.
Dummerweise waren die Battereien fast alle, was uns aber nicht weiter störte, weil das Teil sowieso leierte. Da wir damals schon nur gute Musik hörten, befanden sich auf unserem Party-Tape nur Knaller, bei denen man gar nicht anders konnte, als sich an ihnen mit rhythmischer Gymnastik auszutoben. Aus dem Kassettenrekorder quäkten "Gypsy Roadhog" von SLADE und "Boogie-Woogie Mädchen" von Udo Lindenberg. Sofort hatten wir Schaum vor´m Mund und führten ein paar standesgemäße Tänze auf, was bedeutete, daß wir wie die Bekloppten durch die Botanik sprangen.
Offensichtlich hatte der lauwarme Trunk aus dem Kanister eine äußerst stimulierende Wirkung. Nachdem wir den halben Acker umgepflügt hatten, fielen wir japsend in´s Gras und beschlossen einstimmig, daß es an der Zeit sei, mit einem anderen Tape den sentimentalen Teil des Abends einzuläuten. Nun, wir waren unrasiert, wir stanken aus dem Hals und waren große Bewunderer von Barbecue und rustikalen Flintenweibern - die Zeit war wohl reif für guten Southern-Rock.
Ergriffen berauschten wir uns an dem Gefiedel der ALLMAN BROTHERS, dem harten Boogie von MOLLY HATCHET, der hardrockigen Halbglatzenvollbartmusik von POINT BLANK und
"Homesick" von der ATLANTA RHYTHM SECTION und starrten in die Ferne. Langsam ging die Sonne unter und warf keine Schatten auf die Hügel, die nur noch eine verwaschene, blassgraue Kette bildeten, hinter der der blaue Himmel immer blauer wurde, je länger man hineinstierte.
Und dann geschah es. Und zwar genau in dem Moment, als die drei Gitarristen Gary Rossington, Steve Gaines und Allen Collins von LYNYRD SKYNYRD bei "That Smell" zu ihrem perlenden, quiekenden, mehrstimmig miteinander verwobenen Schlußsolo ansetzten.
Plötzlich schob sich hinter den Hügeln langsam eine gigantische, elektrische Gitarre in den Himmel! Sie hatte kunstvolle Ornamente zwischen den Bünden und einen goldenen Corpus, der Scheinwerferlicht reflektierte, das aus dem All in allen Farben herabgeschossen kam.
Obwohl das Teil so groß war wie das Empire State Building, wirkte es nicht bedrohlich. Eher wie ein guter Freund. Ob das der Geist von Jimi Hendrix war?
"Hey Zepp", stieß ich meinem Kumpel in die Seite, "was hältste von der Gitarre da oben?"
"Eine Gibson SG, älteres Modell, sehr schön" sagte Zepp, während er fasziniert in den Himmel starrte und den Anblick augenscheinlich sehr genoß.
Vielleicht hatten wir die Wirkung unseres Drinks unterschätzt. Entweder erzeugte die Plörre abgesehen von einem beträchtlichen Alkoholpegel auch eine Art LSD-Rausch, okay, dann könnten wir uns mit dem Gesöff immerhin bei der nächsten Weltmeisterschaft im Synchron-Halluzinieren bewerben, oder die Gitarre war wirklich da oben am Himmel.
Ich muß sagen, daß es paranormale Erscheinungen und PSI-Phänomene gibt, vor denen ich mich mehr fürchte. Da gibt es Stimmen, die aus dem Jenseits kommen, Verstorbene, die rastlos über Holzdielen schleichen und Möbelstücke, die sich plötzlich bewegen, aber bei allem Respekt: Hier war es nur eine Gitarre! Sie kam in Frieden und ohne böse Absichten.
Und natürlich war sie da. Wir haben sie ja beide gesehen.
Kurz bevor wir in die Schlafsäcke krochen, weil es nicht mehr besser kommen konnte, ließen wir den beeindruckenden Abend mit einem ruhigen, melancholischen und nach Sandpapier schmeckendem Instrumental ausklingen, das unsere Situation stimmungsvoll auf den Punkt brachte. Der staubige Schleicher heißt "Asleep In The Desert" und ist von ZZ TOP, die auf unserem Südstaaten-Tape natürlich nicht fehlen durften, obwohl sie in einer eigenen Liga spielen. Auf ihren ersten fünf LPs verwöhnen uns die Texaner mit sparsam instrumentiertem, aber furios gespieltem Blues, Rock und Bluesrock. Getragen von einer eigenwilligen Rhythmik und unberechenbaren Arrangements wurde fast jeder ihrer Songs, die sie bis 1976 aufgenommen haben, zu Klassikern in meinem Haushalt, wogegen sie ihre wirklich fetten Hits für´s Bankkonto erst hatten, als sie zu Beginn der achtziger Jahre damit anfingen, gemütlich rockenden Einheitsboogie zu spielen. Fortan bestanden ihre Botschaften und Videos ausschließlich darin, scharfes Essen, scharfe Autos und scharfe Mädchen zu glorifizieren. Wahrscheinlich hielt ich ihnen deshalb noch die Stange, als es ab 1985 wirklich furchtbar wurde. Erst zehn Jahre später fanden ZZ TOP zaghaft wieder zu ihren Wurzeln zurück und spielten mit "Rhythmeen" und "Antenna" zwei dröhnende Retro-Alben ein, deren einziges Zugeständnis an die neunziger Jahre die extrem laute Gitarre war. Billy Gibbons heißt der Knabe, der sie spielt und auf den ersten fünf Platten tut er das mit einem Sound, einem Einfallsreichtum und einer technischen Finesse, die einfach sprachlos macht.
Auf "Tejas", ihrem fünften Album von 1976, ist die Nähe zu Mexiko in dem transparanten, swingenden Sud besonders spürbar. Die Platte klingt wie ein vertontes Menü aus Burritos, Tabasco und Chilischoten, zumindest danach, wie ich mir sowas vorstelle.
Im übrigen, das interessiert die modebewußte Frau von heute, begannen die beiden Frontleute Dusty Hill und Billy Gibbons in jenen Tagen damit, sich ihre Bärte wachsen zu lassen. Durchaus erfolgreich übrigens, denn als sie 1980 in der Rockpalast-Nacht auftraten, hingen ihnen die Gezausel bereits bis zu den Bäuchen. Ich erinnere mich, daß sie stilvolle Anzüge trugen und melonenartige Hüte aufgesetzt hatten und auch daran, daß meine Oma sehr empört war, als sie ZZ TOP im Fernsehen sah. Es war weniger die musikalische Darbietung, die sie erzürnte, sondern vielmehr die Tatsache, daß sich da zwei Herren mit langen Bärten zum Affen machten. In ihren Augen hatten so alte Männer auf einer Bühne nichts mehr zu suchen.
Gesundheit, Mut und Frische sind Privilegien der Jugend.
Also wachten Tom Sawyer und Huckleberry Finn am nächsten Morgen wieder auf. Huckleberry schrie gellend auf, weil durch seinen Schlafsack eine Ameisenstraße führte, während Tom den Kopf zur Seite warf und ein Häufchen Kotze bestaunte.
Die beiden lagen inmitten einer Schafherde, aber das war ihnen egal, denn sie hatten die große Gitarre gesehen.

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