LOKOMOTIVE KREUZBERG
MOUNTAIN TOWN
(BRD 1977)

Mal ehrlich, an was denken Sie gerade? Was törnt Sie an, hm? Ich meine, wenn Sie sich andere Leute vorstellen - wollen Sie sie ausziehen oder umbringen? Und was essen Sie dabei? Schollenröllchen auf Blattspinat oder Erdnußflips an Weingummi?
Oder denken Sie etwa, Sie könnten noch zehn Minuten warten, bevor sie aufs Klo müssen? Denken Sie doch, was Sie wollen, aber ein bißchen schuldig könnten Sie sich schon fühlen, denn Ihr Unterbewußtsein weiß ganz sicher, daß in diesen Minuten hunderte Kinder verhungern und hektarweise Regenwald abgeholzt wird, während Sie hier die Zeit mit einem Artikel höchst zweifelhafter Qualität vertrödeln.
Wenn dem so ist, und dem ist sicher so, denn Sie sind jung, dynamisch und politisch korrekt, dann gibt es in Ihrem Falle zwei Evolutionstheorien:
Entweder sind Sie von Natur aus super, oder Sie sind von diversen Gestalten sensibilisiert worden. Kein schlechter Zug von Gutmenschen wie Bono, Bob Geldof, Sting oder Paul Simon. Wenn es dem Zeitgeist entspricht, wird das Retten der Welt eben zum Mainstream. Was soll´s, Mainstream ist nicht übel. Mainstream bietet den Vorteil, daß viele Leute ein gutes Gefühl bekommen, wenn sie die richtigen Projekte unterstützen, indem sie die richtigen Produkte kaufen.
Vielleicht muß man so werden, wenn die Regierungschefs Reagan, Kohl und Thatcher heißen.
Zu Zeiten Willy Brands gab es längst nicht so viele telegene Leithammel wie in den 80ern. Man brauchte sie auch nicht, denn das entsprechende Selbstverständnis, nämlich zu wissen, daß man stets dazu imstande ist, das richtige zu tun, war bereits vielen jungen Menschen von Bob Dylan und liberalen Professoren anerzogen worden. Mit diesem Selbstverständnis ausgestattet und der damit einhergehenden Gewissheit, selber ein Gutmensch zu sein, schufen einige Musiker eine Menge waghalsiger Werke. In den Siebziger Jahren war man als Untergrund-Künstler, sofern man einigermaßen glaubwürdig bleiben wollte, mindestens gegen das Establishment, besser noch gegen Kirchen, Banken, Krieg und Armut und im günstigsten Falle gleich gegen das ganze Universum (wie die großartigen CHECKPOINT CHARLIE, die "Rock gegen alles" spielten).
Eine beliebte Methode der Agitation war die sogenannte Rock-Oper, zumindest damals, als man Rock noch mindestens mit sechs Eiern kochte.
Ihre umtriebige Aufrichtigkeit inspirierte besonders in Deutschland manche Band dazu, mit ellenlangen, elektrischen Manifesten die Welt zu missionieren. In der damaligen DDR waren es Werke wie "Rosa Laub" von Horst Krüger und Waltraut Lewin (so hört sich das auch an) und "Paule Panke" von PANKOW (die sich beide an westlichen Standards zu orientieren versuchten), im Westen EISBERG, besagte CHECKPOINT CHARLIE, FLOH DE COLOGNE, SCHROEDER ROADSHOW und in gewisser Weise auch GROBSCHNITT (die alle nach DDR-Rock klangen).
Die Besessensten von allen waren LOKOMOTIVE KREUZBERG aus Berlin/West. Sie stellten in ihrem Übereifer, zeitgemäße Sozialkritik in fulminante Stories zu verpacken, sogar die Klassiker dieses Genres - "Tommy" von THE WHO und "S.F. Sorrow" von den PRETTY THINGS- in den Schatten. Zumindest, was die Quantität betrifft. Mit "Kollege Klatt", "James Blond - den Lohnräubern auf der Spur" und "Mountain Town" brachten es die rockenden Zeigefinger auf insgesamt drei Rock-Opern, was angesichts der Tatsache, daß die Band nur sechs Jahre existierte, um sich danach in die NINA HAGEN BAND zu verwandeln, mehr als beachtlich ist.
Übriggeblieben von LOKOMOTIVE KREUZBERG sind ein paar Schallplatten mit bestechend makellosem, ambitioniertem Rock und Botschaften, wie man sie heute nicht mehr an jeder Ecke bekommt.
Ein Mann geht die Straße lang. Er kommt von der Arbeit. Er hat die Schnauze voll.
Wer möchte da nicht wissen, wie diese Geschichte ausgeht?
Ein Mann geht die Straße lang. Er kommt von der Arbeit. Er hat die Schnauze voll.
Spannend, was?
Er kommt von der Arbeit, er hat die Schnauze voll und schließt sich aktiv der Gewerkschaft an.
Bevor Sie sich jetzt kopfschüttelnd abwenden, um über langmähnige Männer mit Vogelnestern im Gesicht zu lästern, bedenken Sie bitte, daß es eigentlich nur zwei Dinge sind, die die Siebziger vom Hier und Jetzt unterscheiden:
Erstens: Beschäftigungspolitik.
Verglichen mit heute waren die Arbeitsplätze relativ sicher. Die Arbeiter kamen in den Genuß tariflich verankerter Sozialleistungen, wie es sie seitdem nicht mehr gegeben hat. Dieser Zustand erregte den Zorn der Politrocker, denn eine andere ausgebeutete Menschenmenge als die Arbeiterklasse war auf die Schnelle nicht zu finden. Mehrere Song-Zyklen wurden verfaßt, um großes Unrecht anzuprangern.
Heute arbeiten Leute für einen Euro in der Stunde. Dieser Zustand erregt den Zorn der Rocker des neuen Jahrtausends. Herausgekommen sind die Songs "Anton aus Tirol", "Schnappi, das kleine Krokodil" und "Ich vermiß dich wie die Hölle".
Zweitens: Popkultur.
Heute kann ein Zweitakter wie Marilyn Manson Leute schockieren. Damals hätten schon die Eltern der Kids gegähnt.
Entscheidend ist also die Art und der Zeitpunkt der Wahrnehmung. Alles weitere ist Resultat derselben und erklärt alles von Rudi Dutschke bis Dieter Bohlen.
Aus diesem Grund braucht man sich über die Sinnhaftigkeit des Politrocks keine Gedanken zu machen, genauso wenig, wie sich manche Macher seinerzeit Gedanken darüber gemacht haben, ob es einen Unterschied zwischen Agitation und Polemik gibt. Man hört, daß die Talente höchst unterschiedlich verteilt waren. Manche mußten sich wirklich abmühen, bei anderen reichte es, wenn Rio Reiser das Maul aufmachte. Allen gemein war die Sichtweise, von unten nach oben, und das damit verbundene Klassenbekenntnis. Ein ehrbares Unterfangen, sicher, aber inzwischen wohl auch ein bißchen antiquiert.
Wie progressiv hingegen wäre es, den Blickwinkel einfach herumzudrehen? Man stelle sich vor, es gebe eine Rock-Oper aus der Sicht eines versnobten Aristokraten, der sich über mittellosen Pöbel beklagt - wieviele Leute in unseren Land wären wohl reif dafür?
Natürlich verschwendeten LOKOMOTIVE KREUZBERG seinerzeit keinen Gedanken an konzeptionelle Experimente, sondern nutzten die Zeit, um mit Jazz-, Blues-, Folk- und Hardrockgetränkten Jazz-, Blues-, Folk- und Hardrock die Erde für vierzig Minuten zu einem besseren Planeten zu machen. Es galt, etwas in den Köpfen der Zuhörer zu bewegen, denn tanzen konnte man dazu nicht. Zu den Wurzeln allen Übels gehörten 1977 die Bild-Zeitung, das Atomkraftwerk und der Polizist. LOKOMOTIVE KREUZBERG schenkten ihnen entsprechende Songs, forderten aber auch Solidarität ("ein Mann, der alleine reitet, stirbt allein") und humane Arbeitsbedingungen für den Berufsstand der Schlosser. Da verwundert es schon ein wenig, daß inmitten dieses verbalen Schlachtfeldes noch Platz für ein Liebeslied blieb, eins, das man ohne rot zu werden hören kann, eins, in dem die unteren Zonen einer Frau zärtlich mit "rosa Muschelbank" umschrieben werden. Okay, sowas ist natürlich Geschmackssache. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle die Berliner gerne in Schutz nehmen, denn gute Songtexte zu verfassen, lassen Sie mich das an dieser Stelle einmal sagen, ist nicht gerade ein Kinderspiel.
Wenn Sie intelligente, hintergründige deutsche Pop-Lyrik mögen und sich aus diesem Grund beispielsweise für die MOBYLETTES entscheiden, ist das weise; sollten Sie diesbezüglich hingegen zu KETTCAR, TOCOTRONIC oder TOMTE tendieren, finden Sie vermutlich auch Camilla Parker Bowles erotisch.
Ich habe "Mountain Town" übrigens mal einer guten Bekannten vorgespielt. Sabine. Wir trafen uns oft, seit ihre Mutter, eine erfahrene Dame mit Geschmack, mir zu verstehen gegeben hatte, daß sie es gerne sehen würde, wenn ich mit meiner Freundin Schluß mache und stattdessen ihre Tochter heirate.
Sabine war sicher keine schlechte Partie. Ich kann mich daran erinnern, daß sie einen sensationellen Hintern hatte und die Haare wie Kim Wilde trug. Sie kam mit dem Bus und ich verwöhnte sie mit Tütensuppe. Wir quatschten, tranken Wein, lachten und badeten in dem angenehmen Knistern, das sich zwischen uns breitgemacht hatte.
Eines Abends bat ich sie, sich auf meinem Sofa lang auszustrecken. Ich zündete ein paar Kerzen an, dämmte das Licht und legte ihr nahe, jetzt nichts mehr zu sagen, die Augen zu schließen und nur noch den Moment zu genießen.
Dann spielte ich ihr in voller Länge "Mountain Town" vor. Während sich Sabine auf dem Sofa räkelte, setzten leise die Keyboards ein und ein Erzähler sprach folgenden Prolog:
"Das ist die Geschichte von McCool, der ausritt, sich sein Recht zu holen. Mit einem Fünfundvierziger. Achtschüssig. Das sind acht mal Recht. Wenn er schnell genug zog. Aber Boß Jo Key, den sie den Wolf nannten, hatte sieben Gunmen mit je zwei Fünfundvierzigern. Grob geschätzt sind das hundertzwölf mal Recht. Es standen sich also gegenüber: acht gegen hundertzwölf mal Recht. In Texas. Damals."
Als die Platte zuende war, stand Sabine auf, ging aus der Tür und stakste zur Bushaltestelle. Im fahlen Schein der Straßenlaternen sah ich ihren sensationellen Hintern zum letzten mal.

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