SNUFF
FLIBBIDDYDIBBIDDYDOB
(GB 1990)

An Inhalte zu glauben ist sicher ein ehrbares Unterfangen, aber wir alle wissen, daß in erster Linie die Verpackung die Attraktivität bestimmt.
Manche Männer fühlen sich angezogen von Düften oder einer bestimmten Art, wie das Weibchen seine Brust vergrößert, ja gut, von mir aus. Der eine will Spaghetti, der andere Pellkartoffeln, das war schon immer so. Ich zum Beispiel bin empfänglich für Farben und Lichtreflexe. Sie erzeugen bei mir eine Art presexuelle Stimulanz und je älter ich werde, je mehr duftende Frauen sich von falschen Männern ficken lassen, je mehr Vororte mit stereotypen, stahlverschalten Reihenhäusern hochgezogen werden, in denen immer mehr Eltern ihren Kindern bescheuerte Namen wie Paul oder Johanna geben, je mehr Pauls und Johannas in diesem verkehrsberuhigten Glücks-Gelee heranwachsen und später, wenn sie erwachsen werden, in affenartiger Lautstärke Boller-Techno in häßlichen Autos hören, desto mehr möchte ich zumindest die Illusion haben, daß mein Leben ein LSD-Trip ist.
Einzig aus diesem Grund mag ich so einen Quatsch wie Christbaumkugeln, Zitronenfalter und Bronzemedaillen, falle vor Fotos mit grün und blau bemalten Frauen aus den Sechziger Jahren auf die Knie und werde mir alles, was eine schöne Farbe hat, irgendwann in den Mund stecken.
Als ich den Namen Snuff zum ersten mal erblickte, stand er in geschnörkelten Lettern auf einem silbernen Etikett. Snuff! In blau-metallic! Jau! Für Erektionen wie die, die ich in diesem Moment bekam, haben sie das Guinness-Buch erfunden.
Das oder der oder die Snuff steckte in einer hellblauen Schnupftabakdose, deren Inhalt nach Menthol schmeckte und die Nasenschleimhäute mit braunem Schotter asphaltierte.
Klasse!
Das war das nächste große Ding!
Alles andere konnte man in der Pfeife rauchen.
Schniefen war in mit 14 und ein guter Einstieg in die kurz darauf folgende Nikotinsucht. Das hellblaue Döschen lag fortan immer auf meinem Schultisch und begleitete mich durch meine Flegelphase, in der ich, frei nach Otto Waalkes, manchen Lehrer mit "adios Embryos" persönlich aus der Klasse verabschiedete und dafür entsprechende Akzeptanz erntete ("du kommst dir wohl sehr stark vor").
So hatte ich die Nase auch randvoll mit dem süßem Pulver, als wir eines Tages im Musikunterricht Punk deklinierten. Statt dem monotonen Gewichse von Beethoven analysierten wir im Herbst 1979 die Sonaten der SEX PISTOLS, der JAM und der Reggaeband STEEL PULSE. Warum eigentlich? Natürlich deshalb, weil Punk noch ganz neu war und Schüler die Gefahren dieser subversiven, neuen Musikrichtung noch nicht abschätzen konnten, die Lehrerin hingegen schon ein Gespür dafür hatte, daß Punk nichts als Ärger bringt.
Mir brachte Punk in erster Linie Langeweile. Ich konnte dem weibischen Gebettel nach Anarchie und keiner Zukunft nicht allzuviel abgewinnen, wahrscheinlich, weil ich die Nase randvoll mit süßem Pulver hatte, damals. Heute finde ich die alten Sachen großartig, aber das war immer mein Problem. Ich lerne Bands grundsätzlich erst zu schätzen, wenn es sie nicht mehr gibt. Ob ich mit 70 allerdings der heutigen Zeit hinterherweinen werde, will ich mal stark bezweifeln. Miese Frisuren und Schlabberklamotten haben die Bewegung längst getötet. Abgesehen davon, daß Punk seine gesellschaftliche Sprengkraft sowieso völlig eingebüßt hat, daß sich alles gleich anhört und es zu jeder schlechten Kopie mindestens zwei gute Originale gibt.
Und jetzt kommen SNUFF und mit ihnen der Grund, sich im neuen Jahrtausend nicht gleich vor den Bus zu werfen.
Obwohl SNUFF sicher nichts dagegen hätten, wenn man ihre Songs zu Beerdigungen hört. Manchmal trägt mich die unterschwellige Tristesse in ihren Songs direkt über den Kanal, wenn ich die Augen schließe und blind tanze, hinein in abgrundtiefe Traurigkeiten, allein in einem kleinen Kaff, London beispielsweise, wo SNUFF herkommen und sich 1986 gründeten.
Ihre Songs mögen Geschichten von Sonnentagen und dem Wunder der Liebe erzählen, aber sie klingen immer nach verrußten Backsteinhäusern, dichtem Nebel und begrenzten Perspektiven. Also so, wie ich mir ein Leben in England vorstelle, seit ich mal kurz da war und ein paar Filme von Mike Leigh kenne. Es gibt nichts, was besser zu einem Leben in Duisburg paßt.
Jeder Song von SNUFF ist ein Musterbeispiel an Verläßlichkeit. Nicht in musikalischer Hinsicht, sondern in dem, was er in einem auslöst. Ein ganzes Album dieser begnadeten Band zu hören wird zum berechenbaren, sauberen Ritt. Es variiert die Intensität, es wechselt Sound und Vision, aber es verändert nie seine Grundstimmung. Keine Farbe, nicht einmal schwarz/weiß, nur Nuancen eines alles erdrückenden Graus. Eine interessante Art, Spaß zu haben.
In gewisser Weise sind SNUFF schon arme Schweine. Sie haben mehr Energie, Gewalt und Zynismus als das ganze Independentcharts aufblähende Fallobst der Neunziger, sie servieren die Filetspitzen von Punk, Grunge und Metal in kochender Sauce, ihre Elektrizität bringt das Blut dazu, die Adern von innen auszurasieren, sie können ihre Songs zu Monumentalbauten von phänomenaler atmosphärischer Dichte aufblasen, um sie im nächsten Moment mit einem Gitarrenriff in die Luft zu jagen, sie können wirklich alles, nur keine Fröhlichkeit verbreiten. Die einzige Art von guter Laune, die SNUFF erzeugen ist die, die man in sich trägt, wenn man den ganzen Abend Witze erzählen muß, um zu vergessen, daß die Fabrik dicht macht und man die Miete nicht mehr bezahlen kann.
Das Fazit: Als atomare Rappelkiste sind SNUFF großartig, als Stimmungskapelle eine komplette Fehlbesetzung. Obwohl sie stellenweise sehr alberne Texte haben, oder sagen wir: britischen Humor, wird kein Mensch sie jemals mit den TOY DOLLS verwechseln. Selbst sinnfreie Sauflieder ("what an asshole, what a fucking wanker, la la la...") klingen in erster Linie melancholisch, was zum einen an der naturtrüben Grölstimme vom Drummer und Sänger Duncan liegt, zum anderen an den vielen Moll-Akkorden. Dazu der häufige Gebrauch einer Posaune und einer Orgel, sowie der ausgeprägte Hang zu eruptiven Klangkaskaden, geschüttelt, nicht gerührt und fertig ist die Lieblingsgruppe.
Und daß SNUFF ihre Musik nicht nur zärtlich mit dem Holzhammer inszenieren, sondern darüber hinaus auch Sympathisanten einer breiten Stilvielfalt sind und mit ihren Coverversionen von BOOKER T. & THE MG´S bis hin zu den SPICE GIRLS jedem Pop-Feinschmecker den Arsch küssen, macht den Altar, den ich ihnen eines Tages bauen werde, noch größer.
"Flibbiddydibbiddydob" enthält abgesehen von ein paar eigenen Songs wie "Rods & Mockers" auch kantige Coverversionen von "Can´t Explain" oder "Hazy Shade Of Winter", garniert mit Staubsaugergeräuschen und einer Band, die ein Maschinengewehr imitiert. Diese Platte kauft man zehnmal und schenkt sie den guten Freunden, denen das Geschenk eine Kiste Bier wert ist.
Eine weitere SNUFF-Mini-LP, die ich hier nicht besprechen werde, weil ich ihre Wucht niemals in Worte kleiden könnte, ist "Potatoes And Melons Wholesale Prices Straight From The Lock Up". Sie enthält neben Limborhythmen und arabeskem Soul auch "Rivers Of Babylon" und den WAT TYLER-Fauxpas "It Must Be Boring Beeing Snuff". Diese Platte kauft man auch zehnmal, behält aber alle Exemplare für sich, falls neun von ihnen mal kaputtgehen.
Eine Zeitlang mußte man befürchten, daß auch SNUFF den Geist aufgeben. "Immer nur Posaunenstoß, sonst war absolut nix los" (Udo Lindenberg). Immer wieder gab es Nebenprojekte wie GUNS´N´WANKERS oder DOGPISS, aber immer wieder kam dann irgendwann auch eine neue SNUFF-Platte. Vielleicht sind sie ein bißchen wie Lothar Matthäus und verschwinden einfach nicht, dachte ich und habe sie mir zweimal live angesehen. Aufgeladen von einer Mischung aus besserem Wissen und Sensationsgeilheit war ich mir sicher, daß sich das Konzert meiner Helden auf die Umlaufbahn vom Pluto auswirken wird oder zumindest das Hallendach wegfliegt, aber am Ende war ich nur erschrocken vom ganzen unkanalisierten Krach. Beim nächsten mal machen wir das anders. Dann setzen wir SNUFF auf die Bühne und spielen einfach nur ihre Platten, drei Stunden lang, eine nach der anderen. Im Sturzhelm.

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