DEL SHANNON
1661 SECONDS WITH DEL SHANNON
(USA 1965)

Es gibt einschneidende Ereignisse im Leben, die man nicht vergißt. Im November 99 wurde ich also von einer Frau aus Ost-Berlin auf 43 (!) geschätzt. An für sich ist gegen 43 auch nichts einzuwenden - viele schöne Sachen passieren, wenn man 43 ist. Ist man tatsächlich aber fast zehn Jahre jünger, tröstet das nicht wirklich.
Na schön. Wenn man denn schon so aussieht wie ein Oppa, ist es sinnvoll, ab und an auch die passenden Sprüche rauszuhauen: Früher war nämlich sowieso alles besser. Zumindest, was Frauenunterwäsche, den MSV Duisburg und Rockmusik betrifft.
Und Oppa sagt: Alles Mist heute! Rock und Pop zum Beispiel: Irgendwelche tattoowierten Heinis lassen sich ein teures Studio bezahlen, um dort mal tüchtig im dreistelligen Dezibelbereich die Löcher aus dem Käse zu schießen. Das mag dem ein oder anderen helfen, mal wieder einen geblasen zu bekommen, liegt aber nicht im Sinne einer deutschen Leitkultur. Für mich als kultivierten Europäer sind Bands wie Biohazard, Sick Of It All und Heavy Metal von Satan gute Beispiele für die Problemzonen einer herkömmlichen Musik-CD. Offensichtlich existiert das Problem, Härte von Lautstärke zu unterscheiden. So suhlt man sich in einem Flickenteppich aus Double-Bass-Stakkatos, dümmlichen Breaks und Riffs mit der Intensität einer abgeleckten Briefmarke. Wir, die Punk wieder aufgebaut haben nach dem Krieg, sagen no! zu plumper Kraftmeierei und schnödem Equipmentgeprotze, denn wir Frühgeburten wissen ja, daß früher alles besser war. Ein paar Fakten: Damals hatten auch die Weiber noch Pferdeschwänze, die CD war noch nicht erfunden und in den Saalbauten der Republik gab´s ausschließlich Livemusik. Mehr noch: Die 50er und 60er Jahre waren laut Nostalgielexikon regelrecht "golden", was im Falle der kleinbürgerlichen Musikraketen im Schlagerhimmel wohl angehen mag, spätestens aber durch die Erfindung des Rock´n´Roll und der damit verbundenen Sortimentserweiterung endgültig manifestiert wurde. I Wish It Could Be 1965 Again sangen die wundervollen Barracudas zu Beginn der lausigen 80er, während die sehr geehrte Frau Jett gerade ihr I Love Rock´n´Roll durch den Äther pustete. Ja, die wilden Sechziger rotzten 1965 gut einen ab! Die Beatles, die Stones und die Pretty Things releasten gute Platten, Mutter Tonk veröffentlichte mich. Mittendrin ein 25jähriger junger Mann aus Michigan, der gemäß einer ausgeklügelten Vermarktungsstrategie "Zigarren raucht, Songs schreibt, Football spielt, Milch trinkt und Modelleisenbahnen sammelt": Del Shannon, der Erlöser!
Brav machte er Jahr für Jahr seine Platte, aus der gar ab und an ein Hit entfloß (Runaway, Hats Off To Larry, Handy Man und und und). Del war gut, aus heutiger Sicht sogar ´ne echte Granate, leider ohne Altar. Total unterbewertet wie heute nur noch Grim Skunk, Square The Circle oder die Dickies.
Mindestens genauso hart wie brotlose Kunst im Schlafrock ist diese LP von Onkel Del, auf der er in besonderem Maße gleich mehrere heiße Eisen anpackt: Unerwiederte Liebe, enttäuschende Beziehungskisten, Sehnsucht nach dem Girl der Träume und Schlampen, die ein falsches Spiel spielen. Dazu noch Demütigungen, zerbrochene Herzen, rausgeschmissenes Geld, seelische Grausamkeiten, quälender Liebsschmerz und unausgesprochene, aber deutlich spürbare Suizidgedanken. Kein Zweifel: 1661 Seconds... ist die bedeutenste Privatsammlung von Schmachtfetzen und Heulsusen der Neuzeit und damit auch die feuchteste Platte der Welt. Tränen zum Sturzbach, Messer zur Pulsader! Oh Mann. Man muß als Chronist schon verdammt froh sein, wenn man diesen Artikel trocken übersteht. Da als Gefühlsmensch cool zu bleiben, ist gar nicht mal so leicht. Del, The Träne, haut aber auch mit einer Wucht in´s Taschentuch, das ist schon nicht mehr feierlich. Und mal unter uns Softies: Gibt es etwas Tragischeres als eine flennende Sweet Little Sixteen, die an Liebeskummer laboriert? Da sowas in der Regel der emotionale Höhepunkt jeder Pubertät ist, wohl kaum. Der Thrill daran: In so einer vermaledeiten Situation steht jeder normale Boy bereits mit einem Bein im Freitod, was wohl die interessanteste Form von Romantik ist. Leider wurde im Laufe der Jahre das schöne "Say you´re sorry" durch das eher unpersönliche "Verpiss Dich, Motherfucker!" abgelöst, aber wir haben Glück mit dem Wetter: She Cried und Broken Promises direkt zu Beginn der Höllenfahrt stecken das Terrain gut ab: Mitfühlen, mitleiden, mitheulen! Dazu kredenzt Del seinen Qualitätsrock, der hier mit einer enormen, harten Direktheit (ach ja, die schönen Steinzeit-Studios!) auf den Tisch des Hauses knallt und aus folgender Rezeptur besteht (wenn Sie bitte mitschreiben würden): Hall, schneidende Falsettstimmen und eine handbetriebene Orgel von 1906, die zur gelegentlichen Entlastung der heimischen Kompaktanlage durch ein Saxophon ersetzt wird, falls man bei dieser brutalen Zahnarzthupe überhaupt von einem Saxophon sprechen kann. Ferner mit an Bord sind die Evergreens Needles And Pins und Do You Wanna Dance (nein, Karl-Heinz, das sind keine Ramones-Coverversionen!), aber wem sage ich das? Um zur Sache zu kommen: Der Hauptgrund dafür, jede Plattenbörse nach dieser Platte abzugrasen, ist die Beherbergung von einem ganz speziellen Freund von mir. Es handelt sich um den zweieinhalbminütigen Songbeitrag mit dem Titel Stranger In Town, der mit einem unglaublichen Faustschlag zwei Jahrzehnte Teenagertum zu einem einzigartigen, gigantischen Orgasmus peitscht. Stranger In Town ist Sex. Naßmach-Rock mit Ständing Ovations. Tears & Action pur. Eine Granate. Obwohl es recht betulich losgeht, sollte man sich nicht täuschen lassen und auf keinen Fall die Finger vorzeitig aus dem Schoß nehmen. Endlos hallende Gitarrenwände in Breitwand-Moll bilden den Vorspann. Schneuz. Kurz danach erhält der Song seinen Beat und der Hörer darf in den kommenden zwei Minuten nicht weniger als acht rührseligen, zahnsteinsprengenden Flickenteppichen lauschen, die Del, das muß ihm der Neid lassen, elegant zusammengeschustert und arrangiert hat, und zwar weltrekordverdächtig super. Ein vor Herzeleid zerfurchter Shannon röhrt, schmachtet und schmollt sich durch das klebrige Häufchen Text, singt alle 72 Gesangsspuren selber und läßt mit seinem einzigartigen Falsett folgende Filmsequenz ablaufen: Novemberabend in Duisburg-Wedau, keine Sau mehr auf der Straße. Es regnet Bindfäden, Jerry tritt in Hundescheiße und der Saalbau ist geschlossen. Plötzlich Motorengeräusch. Ein Opel Admiral spritzt aus dem Dunkel, wird langsamer und hält an. Jemand kurbelt von innen das Seitenfenster herunter, eine Hand schnellt hervor und die ausgelutschte Kippe fliegt dem suizidgefährdeten Spaziergänger direkt an die Ömme. Genau jetzt zehn Minuten Standbild, schwarzweiß, nicht verwackelt. Danach Blende 44/2, Schwenk auf die Acht, leise Musik, langsamer Abgang, Ende.
Na, Interesse? Gut. Dann erklär ich jetzt mal, wie das hier so abläuft. Also, ich dachte da schon an einen richtigen Spielfilm, sowas abendfüllendes, na, Sie wissen schon. Mir schwebt da auch schon was vor, warten Sie mal, ja, ich glaube, wir sollten Woody Allen fragen. Und Goldie Hawn, Danny DeVito und die Stadt Duisburg wegen der Drehgenehmigung. Genau, so machen wir das, da wird nicht lang gefackelt. Wie gesagt, der Soundtrack ist da - die Dreharbeiten können von mir aus gleich morgen beginnen. Nur auf Del Shannon in Echtfleisch müssen wir wohl verzichten. Er nahm sich im Februar 1990 das Leben.

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