JOHNNY THUNDERS & PATTI PALLADIN
COPY CATS
(USA 1988)

Manchmal liege ich nachts mit offenen Augen im Bett und frage mich, warum es außerhalb des Schlafzimmers so viele Idioten gibt. Ich spiele oft mit dem Gedanken, mich dauerhaft in einem Erdloch einzunisten, mich von Gras und Wurzeln zu ernähren und einfach nur vor mich hinzustarren. Besser wäre natürlich ein Schallplattengeschäft, das 1979 geschlossen und versiegelt wurde, weil der ehemalige Inhaber in ein Erdloch gezogen und nicht mehr zurückgekommen ist.
Ich stelle mir vor, daß die komplette Einrichtung samt Ware noch im Originalzustand vorhanden ist und einen angenehm penetranten, nach Vinyl und Pappe schmeckenden Duft verströmt. Die Regale sind voll von neuem, heißem Zeug aus England und Amerika, auf dem Plattenteller liegt eine Platte von CHEAP TRICK und Deborah Harry steht als Pappaufsteller überlebensgroß vor mir. Vielleicht sind auch noch Süßwaren auf Lager, die es gar nicht mehr gibt, Treets und Superbum zum Beispiel, und in der Nische neben der verglasten Eingangstür steht auf einem Stapel Musikzeitschriften ein kleiner, portabler Fernseher, in dem "Drei Engel für Charly" mit der unglaublich hübschen Kate Jackson läuft.
Ich glaube, daß ich in dieser Atmosphäre vorzüglich meditieren könnte. Ich wäre ein ausgeglichener, friedfertiger Kumpan, der sich im Schneidersitz die Haare wachsen läßt.
Und nach dreißig Jahren würde ich den Laden wieder verlassen, mich rasieren und mir eine Frau suchen, mit der ich in ein schönes Erdloch ziehe.
Eine interessante Vorstellung, wenngleich ich befürchte, daß das Eremitendasein eher eine Lebensform für den freien Nachmittag ist. Wesentlich angenehmer ist es, mit guten Freunden spazieren zu gehen, gepflegte Herzlichkeiten auszutauschen, sich am Gepiepe der heimischen Singvögel zu erfreuen und beizeiten ein Schälchen Pommes zu essen. Andere Menschen mögen andere Prioritäten setzen, mögen gemeinsam in´s Kino gehen, Operetten hören oder dummes Zeug wie Nordic Walking machen, aber das ist dann nicht mehr mein Problem.
Daß man die Stunden mit seinen Bekannten genießen kann, liegt wohl auch darin begründet, daß man sich seine Bekannten selber aussuchen kann.
Früher war das bei mir anders. Damals bestand bestimmt ein gutes Drittel meiner Tafelrunde aus Erikas und Mustermännern, die über Dritte zugewandert waren und deren Gesellschaft ich nicht unbedingt gesucht hatte. Im Nachhinein betrachtet war ich sicher eine Spur zu tolerant und menschenfreundlich. Auch wenn jemand die Ausstrahlung eines Schuhschranks hatte, sah ich in ihm stets das Schäfchen Gottes. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich schon mit langweiligen, blöden Brechgesichtern verbringen mußte, nur weil sie zum erweiterten Freundeskreis eines Freundes oder einer Freundin gehörten. Sie glauben ja gar nicht, was da draußen für ein Volk rumläuft!
Es wird Sie vielleicht verwundern, aber es gibt kaum Menschen, mit denen man sich vernünftig über Musik und Fußball unterhalten kann. Die meisten haben völlig belanglose Interessen, irgendeinen Hochschulabschluß und einen gutbezahlten Arbeitsplatz in Mettmann oder Ratingen, von dem sie berichten, wenn man sie nicht darum bittet. Das einzige, was sie essen, ist Gurkensalat und das einzige, was sie hören, sind U 2 und Spendenaufrufe von Greenpeace. In ihren weißgetünchten Drei-Zimmer-Wohnungen würden sie sicherlich niemandem auf den Wecker gehen, aber irgendwann werden sie von einer unvorsichtigen Person zu einer Party mitgeschleppt, auf der sie nichts zu suchen haben. Dort mischen sie sich mit unverbindlichen Kommentaren heimtückisch in Gespräche ein, trinken kein einziges Bier, benehmen sich nicht daneben und ehe man sich versieht, liegt man ein halbes Jahr später Zelt an Zelt auf einem Campingplatz im Sauerland und schlägt sich gegenseitig die Heringe in den Boden.
Manchmal liege ich nachts mit offenen Augen im Bett und wünsche ich mir einen einen antihomosapiensistischen Schutzwall, den die NASA für mich bauen könnte. Für manche Menschen ist es einfach besser, wenn sie unter großen Käseglocken leben.
Ich frage mich, was wohl aus Dagmar geworden ist. Ich glaube, sie war damals Mitglied einer Sekte, zumindest sah man sie nur in weißen Klamotten. Mit ihrer eher robusten Gestalt und dem blonden, langen, lockigen Haar sah sie aus wie ein fetter Engel, aber sie war sehr nett, sehr freundlich und schätzte schlecht erzählte Witze.
Dagmar war weitaus mehr als nur ein weiterer fröhlicher Mensch, der irgendwann in meine Käseglocke gekrochen war. Sie hatte keine Allüren und war in jeder Situation offenherzig, warm und ehrlich. Ich schätzte den fragilen Charme ihrer Gesellschaft und den damit verbundenen Reiz, daß eine euphorische Situation sich plötzlich in´s Gegenteil verkehren konnte, wenn sie ihre Sekundendepression bekam. In diesen Momenten glitt ihr Lachen nahtlos in ein Schluchzen, das sich in der Regel schnell verflüchtigte und in ein Grinsen verwandelte, dem dann ein Wutausbruch folgte, von dem aus sie plötzlich in den Zustand tiefster Zufriedenheit purzelte.
Ich fand es großartig, daß die Dame in Weiß dem Mann ihres Vertrauens die Luxusausstattung ihrer Gefühlspalette präsentierte und noch besser, daß sie bei allem, was sie tat, einen dermaßen sympathischen Eindruck hinterließ. Das war großes Kino, kann ich Ihnen sagen. Als hätte man alles, was Meg Ryan im Film "Harry & Sally" neunzig Minuten lang sagt, tut und denkt, mit Überdruck in eine Gasflasche gefüllt und durch Dagmar in dreißig Sekunden wieder ausströmen lassen. An Tagen wie diesen tat sie mir schon ein bißchen leid. Sie hatte den emotionalen Pogo nicht verdient, denn sie hatte einen guten Charakter ohne seelische Abgründe.
Allerdings hatte sie Schwierigkeiten, den richtigen Mann zu finden. Dank einer glücklichen Fügung auf unseren kosmischen Zeitschienen kreuzten sich unsere Wege für ein paar Jahre und ich konnte fasziniert beobachten, was für Typen sie anzog.
Eine zeitlang war sie mit jemandem zusammen, der im Begriff war, sich eine große CD-Sammlung zuzulegen. Allerdings war für ihn nicht die Musik auf der CD ausschlaggebend, sondern der Sound. Dirk war besessen von Quadrophonie, LCD-Anzeigen und dem Niedergang der Gleichlaufschwankung, aber ich nenne ihn mal John, das klingt besser. Es sagt eine Menge über John aus, daß er sich von PINK FLOYD-Platten beeindrucken ließ und sein Jura-Studium nach Plan verlief. Er konnte mehrere Loriot-Sketche rezitieren und erkannte einen guten Wein am Bukett.
Dagmar schmiss ihn nach ein paar Wochen raus.
Der nächste Kandidat war, ohne einem Berufsstand zu nahe treten zu wollen, Versicherungsvertreter. Wir verbrachten ein paar spaßige Nachmittage damit, uns gegenseitig anzuöden und dabei Klaus Lage zu hören. Der Typ hatte, ohne einer Sättigungsbeilage zu nahe treten zu wollen, das Charisma einer alten Kartoffel. Ein absolutes Rätsel, wie so einer an eine Lady wie Dagmar geraten und parallel noch ein Verhältnis mit einer anderen Frau haben konnte.
Dagmar war danach ein paar Wochen richtig mies drauf und wollte von Männern nichts mehr wissen, aber kurz darauf lernte sie Wolfgang kennen.
Ich fand es schon sonderbar, daß mich Dagmar vor meinem Besuch nochmal anrief, um mir mitzuteilen, daß Wolfgang etwas komisch sei.
"Wie meinst du das" fragte ich.
"Wörtlich" sagte Dagmar und fing an zu gibbeln.
"Erzählt er schmutzige Witze?"
"Nein, er ist nett."
"Okay. Bis dann."
Dummerweise erzeugen nette Menschen niemals eine derartig diffuse Neugierde, wie sie in mir wütete, als ich am Wochenende darauf die Stufen zu Dagmars Wohnung hinaufstieg, die Tür öffnete und in die gute Stube trat.
Mein Blick fiel direkt auf Wolfgang, der sich breitbeinig in einem Sessel lümmelte. Seine Statur war eher schmächtig, er hatte einen buschigen Schnauzbart und einen viereckigen Kopf. Sofort mußte ich an Lech Walesa denken, doch im selben Moment verflüchtigte sich der Gedanke und in meinem Schädel kreisten nur noch Fragezeichen.
Warum trug Wolfgang keine Hose?
"Wolfgang, Thomas, Thomas, Wolfgang" stellte uns Dagmar gegenseitig vor, während mein Blick an Wolfgang kleben blieb.
An seinem Körper schlabberten bestickte, erdfarbene Tücher, die mit dünnen Lederbändchen aneinandergeknotet waren. An seinem Hals schmiegte sich eine Kette aus Löwenzähnen, seine Handgelenke waren mit silbernen Armreifen behangen und seine Füße steckten in hellbraunen Wildlederwindeln. Sanft hob er die Hand, spreizte zwei Finger zu einem V und sagte "Hugh!"
"Du hast eine Feder in deinem Haar" stammelte ich.
"Ich weiß. Grauer Falke schnell."
Man brauchte keine Rauchzeichen mehr lesen, um zu wissen, daß dies ein strapaziöser Abend werden würde. Nachdem ich dann irgendwann bleichgesichtig den Wigwam von Häuptling eigener Herd und seiner Squaw verlassen hatte, ließ ich den Kontakt zu Dagmar einschlafen und reagierte auch nicht mehr, als sie mir ein paar Wochen später ihren neuen Freund vorstellen wollte. Es ist ein absolutes Mysterium, wie es bestimmte Leute schaffen, aus einem großen Lostopf voller Hauptgewinne immer nur Nieten zu ziehen.
Wie effektiv Frau und Mann zusammenarbeiten können, wenn keiner von ihnen einen Dachschaden hat, zeigt die Rockgeschichte. Sie mögen da an John und Yoko denken, aber denken Sie besser mal an SONNY & CHER, BLONDIE und NASHVILLE PUSSY.
Nach dieser einigermaßen grazilen Überleitung möchte ich auf "Copy Cats" verweisen, eine LP mit skurillen Interpretationen von Blues-, Soul- und Popklassikern, die von Johnny Thunders und Patti Palladin beseelt und mit dem nötigen Respekt vor den Erzeugern eingesungen wurden. Dank einer atmosphärisch gehaltenen Produktion klingen die Versionen hier fast noch authentischer als die Originale von Elvis, Natalie Wood, Dion, den SHIRELLES und den SEEDS, der Sound ist im guten Sinne muffig und Johnny Thunders war, mit Verlaub, noch nie so brilliant wie auf dieser Platte.
Das glauben Sie nicht?
Das sollten Sie aber.

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